Grußwort der Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit zur Szenischen Lesung des Dokumentarstücks „Meine Eltern haben mir nur das Positive erzählt“

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Gäste,

Mitglieder der Bürgerschaft und des Konsularischen Korps, liebe Dorothee Stapelfeldt, lieber Herr Röder,

liebe Vertreter:innen der religiösen Gemeinschaften,

meine Damen und Herren, guten Abend Herr Batz!

 

Vielleicht kommt Ihnen das bekannt vor:

Wenn sich Nudeln oder Zahnpasta dem Ende neigen, kaufen Sie nach, am besten gleich auf Vorrat. Haben ist besser als brauchen!

Wenn Sie eigentlich schon satt sind, aber noch etwas auf dem Teller liegt, essen Sie alles auf. Immer. Nichts wegwerfen!

Und wenn Sie sich auf einen Stuhl setzen, brauchen Sie eine Wand hinter sich – bloß nicht der Raum hinter Ihrem Rücken, gar die Tür. Pass auf!

 

Warum erzähle ich Ihnen das? Weil es womöglich mit der deutschen Vergangenheit zu tun hat. Womöglich sind das Ihnen bekannte Verhaltensmuster, die bewusst Eltern oder Großeltern übernommen sind – und mit denen es sich ja auch ganz gut leben lässt.

 

Was aber, wenn bei jedem Gewitter Todesängste auszustehen sind? Wenn die Bilder aus den Nachrichten über Kriegsregionen wie die Ukraine oder den Nahen Osten Depressionen auslösen? Wenn Rastlosigkeit, Einsamkeit oder übertriebener Leistungsdruck das Leben bestimmen?

 

Vielen Kindern und Enkelkindern von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung ergeht es so: Sie tragen das Kriegserbe in der Seele – obwohl sie den Zweiten Weltkrieg gar nicht selbst erlebt haben.

 

Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie hier im großen Festsaal zur Szenischen Lesung. Bei unserem diesjährigen Dokumentarstück greifen Sie, lieber Herr Batz, ein besonderes, aber hochaktuelles Thema auf: wie Traumata von einer zur nächsten Generation weitergegeben werden.

 

Vor zwei Tagen jährte sich die Befreiung von Auschwitz zum 79. Mal. Am 27. Januar gedenken wir traditionell den Opfern des Nationalsozialismus.

Beinahe eine ganze Generation ist im Zweiten Weltkrieg traumatisiert worden – auf Opfer- ebenso wie auf Täter:innen-Seite.

 

Der Verlust von Angehörigen oder der Heimat, Gewalterfahrungen, Hunger, mitunter Todesängste.

„Weitermachen“, „nach vorne gucken“, „nicht jammern“, schließlich könne man dankbar sein, all das überlebt zu haben.

Das war der Tenor der Nachkriegszeit.

Gefühle zeigen bedeutete Schwäche zeigen. Psychologische Hilfe gab es schon gar nicht. So wurden kollektives Schweigen und Verdrängen zum idealen Nährboden für unverarbeitete Traumata.

 

Vermutlich unbewusst - waren die Menschen doch wortwörtlich mit dem Überleben beschäftigt und mussten funktionieren.

 

Heute ist es gut erforscht: Das erlebte Kriegstrauma wurde vielfach weitervererbt, an die Kinder, Enkelkinder und teilweise sogar an deren Kinder.

 

Viele Betroffene beschreiben eine emotionale Last als nicht „greifbar“, leiden an Depressionen oder scheinbar unbegründeten Ängsten. Fachleute auf dem Gebiet der Traumatherapie gehen heute davon aus, dass ein Mensch das Trauma seiner Vorfahr:innen aufarbeiten muss, um den „Kreis zu durchbrechen“. Anderenfalls leidet die nächste Generation womöglich weiter.

 

In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch der gesellschaftlichen Verantwortung für Geflüchtete stellen: Wer aus Kriegsgebieten bei uns in Hamburg Schutz sucht, benötigt professionelle Unterstützung auch für die psychische Gesundheit – und bekommt sie auch, immerhin diese Lehre haben wir gezogen Damit Gewalterfahrungen der einen Generation nicht in Gewalterfahrungen der nächsten münden.

 

Besser wäre, wir könnten sicher sein, dass die Gräueltaten des NS-Terrors, die bis heute nachwirken, nie wieder möglich sind. Können wir das?

 

Momentan ist die extreme rechte Gesinnung in der Öffentlichkeit erschreckend präsent, unterstützt und präsentiert auch durch gewählte Politiker:innen und Politiker, durch Funktionäre in Vereinen, Verbänden, Vorfeldorganisationen und Unternehmen.

 

Es ist unglaublich, dass wir fast 80 Jahre nach dem Krieg vor der Gefahr rechtsextremer Ideologie warnen müssen. Unsere Zivilgesellschaft zeigt in diesen Tagen laut und deutlich, dass eine große Mehrheit diese Mahnungen teilt und entgegnet den Verbündeten und Sympathisanten von Nazis und Identitären: „Wir sind mehr!“.

 

Was mich, insbesondere mit Blick auf die anstehenden Wahlen ein wenig zuversichtlich stimmt: Hunderttausende Menschen gehen dieser Tage auf die Straße, auch hier in Hamburg, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren und für unsere Demokratie einzustehen. Nicht die rechten Hetzer sind das Volk, wie sie immer wieder behaupten. Die „Mitte der Gesellschaft“ zeigt, dass ihr unser Land, unsere Demokratie etwas Wert sind. Wir Demokrat:innen sind die große Mehrheit!

Mit Blick auf die Wahlen im Juni hoffe ich, dass das Interesse an Beteiligung so hoch bleibt.

 

Auch wenn unsere Gedenkkultur von rechts als „Versöhnungstheater“ abgetan wird, versichere ich Ihnen: Die Hamburgische Bürgerschaft setzt sich entschieden ein gegen Antisemitismus und alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Es geht um weit mehr als symbolische Gesten. Wir haben einen städtischen Antisemitismus-Beauftragten eingesetzt, der Senat arbeitet an einer Antizyganismus-Strategie, und wir sorgen für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Hamburger NSU-Mords an Süleyman Taşköprü.

 

Neben dem Begehen von Gedenktagen ist das Schaffen neuer Gedenkorte und neuer Veranstaltungsformen selbstverständlich.

 

In der Rathausdiele können Sie noch bis zum 18. Februar eine Ausstellung über Rechte Gewalt nach 1945 in Hamburg besuchen. Dabei stellen sich unbequemen Fragen. Etwa nach den blinden Flecken von Polizei, Justiz und städtischen Strukturen, die rechtsextremistische Motive der Täter:innen jahrzehntelang verkannt haben.

Auch dazu sind wir mit Ausstellungen und Lesungen in den letzten Jahren immer wieder darum bemüht, dem „Nie wieder!“ einen Hintergrund zu verpassen. Denn untrennbar zusammen gehört mit unserem „Nie wieder ist jetzt und heute und morgen“ ja der Imperativ:

„Wehret den Anfängen“!

 

Bevor es gleich losgeht, möchte ich mich bei den Sprecher:innen Robin Brosch, Tommaso Cacciapuoti, Rabea Lübbe, Mignon Remé, Erik Schäffler und Michael Weber bedanken.

Sowie bei den den Musiker:innen Manusch Weiss, Edgar Herzog und Jakob Neubauer.

Ebenso danke ich den Übersetzer:innen und den Helfenden Händen hier im Rathaus, die unsere Veranstaltungen höchst kompetent und dabei stets sehr freundlich unterstützen.

 

Mein besonderer Dank geht an Sie, lieber Herr Batz. Bereits zum 26. Mal bringen Sie hier im Rathaus die Szenische Lesung auf die Bühne. Besonders dieser Tage ist Ihr Beitrag von großem Wert.

Aber, ehrlich gesagt, die Lesung heute Abend ist mir nicht so wichtig. Ich schaue in viele bekannte Gesichter.

Aber morgen zeigen wir das Stück noch zwei Mal für Schulklassen.

 

Mögen auch junge Menschen von diesen authentischen Stimmen berührt werden, um Mitgefühl für NS-Verfolgte zu entwickeln – sowie das tiefe Verständnis dafür, was Menschenwürde bedeutet.

 

Und nun mache ich die Bühne frei für die Szenische Lesung!

Vielen Dank.


Datum: Montag, 29. Januar 2024, 20:00 Uhr
Ort: Rathaus, Großer Festsaal