Gedenkworte von Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit anlässlich des Volkstrauertages

Es gilt das gesprochene Wort!


Verehrte Vertreterinnen und Vertreter des Konsularischen Korps,

der Kirchen und Religionsgemeinschaften,

sowie der Parlamente,

ich begrüße Sie, liebe Frau Koop, lieber Herr Romey und Herr van Mierop,

sehr geehrte Damen und Herren!


Nie wieder ist hier - und heute.

Zum Gedenken am Volkstrauertag begrüße ich Sie alle im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme.

Hier ist in diesem Jahr der Ort der zentralen Hamburger Kranzniederlegung und wir versammeln uns deshalb heute nicht bei der Stele, sondern mitten im Lager.

Die Erinnerungsarbeit muss sich weiterentwickeln – weil sie nicht stehenbleiben kann und weil sie nichts wert wäre, wenn sie es täte, also wird die Ausgestaltung des internationalen Mahnmals, an dem wir so oft standen, überarbeitet.

Nie wieder – ist überall hier.

 

Das hier war der sogenannte Arrestbunker.

Es gab dort fünf Einzelzellen, jeweils knapp vier Quadratmeter groß. Das ist sehr klein, aber der Platz reichte, um Häftlinge zu quälen und zu verprügeln.

Ermordet wurden sie dann im Flur vor den Zellen – entweder erschossen oder an Haken in der Decke aufgehängt.


Anfang September 1942 wurde der Arrestbunker umgebaut. Die Fenster wurden abgedichtet, Heizspiralen und Ventilatoren installiert.

Das war nun allerdings keineswegs ein humaner Akt, sondern das genaue Gegenteil, denn zugleich wurden Einwurfschächte ins Dach gebaut. Durch die Schächte leitete man dann Blausäuregas ein, das berüchtigte Zyklon B. Noch im September 1942 wurden hier 197 Gefangene vergast, sowjetische Kriegsgefangene. Im November weitere 251.

Bis Kriegsende wurde hier gemordet, häufig mehr als 50 Menschen pro Woche.

Das Zyklon B lieferte bekanntermaßen eine Hamburger Firma, Tesch & Stabenow, kurz Testa, mit Sitz im Messberghof inmitten unseres heutigen Weltkulturerbes „Speicherstadt“.

 

Meine Damen und Herren,

wir gedenken hier in Neuengamme und angesichts dieses schrecklichen und seiner Außenlager vor allem der Opfer der Naziverbrechen.

Hier wurden Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene, Juden und Jüdinnen und engagierte Christenmenschen, Kommunist:innen und Sozialdemokraten und viele andere wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer weltanschaulichen oder auch sexuellen Ausrichtung gequält, gefoltert und ermordet.

Dafür schäme ich mich, dafür sollten sich alle „anständigen Deutschen“ auch noch 80 Jahre nach diesen Vorgängen schämen. – Nie wieder ist heute.


Meine Damen und Herren,

neben den Schuldigen für diese Taten, also den Tätern und den Vielen, die einfach wegsahen oder sogar mittelbar dazu beitrugen, gab es auch Tausende von Männern, Frauen und Kindern, die selbst Opfer wurden.

In Rothenburgsort, wo ich Abgeordnete bin, gedenken wir jedes Jahr der 43.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die dem Feuersturm nach den Bombenangriffen zum Opfer fielen.

Und auch die Soldaten sind wohl nicht alle jubelnd in den Krieg gezogen. Viele haben nicht überlebt, nach vielen wird bis heute gesucht.

Erst vor ein paar Tagen hat der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den „symbolisch“ einmillionsten kriegstoten Soldaten in Litauen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gefunden, exhumiert und würdig bestattet.


Meine Damen und Herren,

der römische Philosoph Lucius Annaeus Seneca, genannt Seneca der Jüngere, hat vor rund 2.000 Jahren gesagt, im Tode seien alle Menschen gleich.

Das ist ein Satz von großer Weisheit und wir alle sollten uns daran orientieren. Es gibt unter den Toten, derer wir gedenken, keine Opfer erster und zweiter Klasse!

Und trotzdem, trotzdem zwingen uns aktuelle Ereignisse manchmal, einzelne Gruppen von Opfern und völkerrechtswidrige Übergriffe besonders zu erwähnen.


Am 7. Oktober verübte die Terrorgruppe Hamas abscheuliche Angriffe auf israelische Menschen. Weit mehr als tausend oft noch sehr junge Jüdinnen und Juden wurden bei diesen heimtückischen Überfällen getötet oder als Geiseln genommen.

Israel hat den Kampf gegen die Terrorgruppe aufgenommen. Das ist das gute Recht Israels und dieser Kampf gegen den Terror hat unsere volle Unterstützung.

Die in der Menschheitsgeschichte beispiellose Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das erklärte deutsche Staatsziel, sämtliche Jüdinnen und Juden in Europa zu ermorden, dies waren gewichtige Gründe, 1948 den Staat Israel zu gründen.

Ein sicherer Ort für alle Jüdinnen und Juden sollte es sein. Und wir stehen fest an der Seite Israels, wenn es gilt, diesen Staat zu verteidigen. Das gilt ohne Wenn und Aber. Israel ist deutsche Staatsräson.

Und das jüdische Leben bei uns ist Teil unserer Staatsräson, denn:

Seit dem 7. Oktober, dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, ist jüdisches Leben auch in Deutschland wieder bedroht.


Viele Jüdinnen und Juden vermeiden es, auf der Straße hebräisch zu sprechen, verstecken ihre Kippa oder Davidstern-Kette unter ihrer Kleidung oder geben bei Lieferdiensten falsche Namen an. In Bus und Bahn öffnen sie Apps Sozialer Medien nicht, aus Sorge, die Israel-Flagge im Feed könnte erkannt werden.

Einige Eltern trauen sich nicht, ihre Kinder in jüdische Einrichtungen wie Kitas oder Schulen zu schicken.

Sie müssen sich in ihrem Alltag einschränken, aus Angst vor Anfeindungen und Gewalt.

Und auch weitere Mitbürger:innen berichten von zunehmendem Hass und einer Steigerung der Gewalt aufgrund von sexueller Identität, aufgrund von ihrer Religion, der Hautfarbe oder anderen Merkmalen.


All das geschieht in unserem weltoffenen Hamburg, im Jahr 2023 – knapp 80 Jahre nach dem Ende der Nazi-Verbrechen.

Das „Nie wieder!“ ist uns nach dem Holocaust zum Leitgedanken geworden.

„Nie wieder!“ ist jetzt, und „Nie wieder!“ ist hier!

Wir dürfen und wir werden keinen Hass mehr dulden, keine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, keinen Antisemitismus, Antiziganismus, keine Homophobie, keinen Rassismus und keinen Sexismus. Wir werden das nicht hinnehmen.


Der heutige Volkstrauertag mahnt uns dazu, an die Verbrechen unserer Vorfahren zu erinnern und daraus zu lernen.

Von Esther Bejerano kennen wir den Satz: „Ihr tragt keine Schuld für das was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“


Auch Helmut Schmidt wies einst auf die „politische Erbschaft der Schuldigen“ hin, die wir annehmen müssen. Wer wegschaut, wer leugnet und sich nicht über die eigene Vergangenheit informiert, macht sich mitschuldig.

Wir dürfen uns nicht schuldig machen, und wir dürfen auch mit all unserem Wissen nicht zusehen, dass unsere Kinder sich schuldig machen.

Deshalb erinnern wir uns, nicht nur an Gedenktagen wie heute.


Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme leistet dabei wertvolle Hilfe – hier und an zahlreichen Orten in der Stadt, wie zum Beispiel in jedem Januar in unserem Rathaus.

Historiker:innen arbeiten unsere Geschichte auf und Generationen von Schüler:innen haben sich kritisch und ausgiebig mit dem dunkelsten Kapitel unserer Deutschen Geschichte beschäftigt.

Doch machen wir uns nichts vor: Antisemitismus und all die anderen Formen von menschenverachtendem Hass waren auch nach Kriegsende in Deutschland nie ganz verschwunden und finden sich in allen Schichten der Gesellschaft.

Der Satz „Ich bin stolz, Deutscher zu sein!“ beinhaltet immer auch das arrogante Gegenteil, nämlich den überheblichen Jubel, einer angeblich besseren Gruppe anzugehören als andere.

 

Das ist widerwärtig und dumm, aber es ist vorhanden. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

 

In unseren Parlamenten sitzen Menschen, die den Holocaust leugnen, die mit populistischen Aussagen den Nährboden für Ausgrenzung und Hass schaffen und die neuerdings ihren angeblichen Einsatz gegen Antisemitismus als Deckmantel für ihren Hass gegen Musliminnen und Muslime missbrauchen.

Nein, wir dulden keine Glaubenskriege auf unseren Straßen, aber wir wehren uns auch gegen pauschale Verurteilungen, gegen Diskriminierung und gegen jegliche Form von Xenophobie.

 

Nie wieder – ist hier.

„Nie wieder!“ das galt gestern, es gilt jetzt und es gilt morgen. 

Jede und jeder Einzelne muss sich gegen Ausgrenzung und Hass einsetzen. Sehen und hören Sie genau hin. Machen Sie auch weiterhin deutlich, dass Rassismus hier keinen Platz hat. Ganz besonders im Alltag, in den vermeintlich beiläufigen Situationen.

Wir müssen Mauern des Schweigens verhindern. Dann können wir auch in Zukunft in Frieden, Sicherheit und Freiheit leben.


Mein besonderer Dank gilt allen Polizist:innen, die seit Wochen bei Demonstrationen und Einsatzlagen in Hamburg unermüdlich Überstunden leisten, um jüdisches Leben in unserer Stadt zu schützen.

Ich danke dem Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge, der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, dem Arbeitsausschuss der Organisationen ehemals Verfolgter und Herrn van Mierop, dem Enkel von Roger Vyvey, der gleich sprechen wird.

 

Vielen Dank.


Datum: Sonntag, 19. November 2023, 12:00 Uhr
Ort:
KZ-Gedenkstätte Neuengamme