Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zu 80 Jahre seit dem Feuersturm in Hamburg

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrter Herr Dr. Vetter,
sehr geehrter Herr Batz,
liebe Hamburgerinnen und Hamburger,
meine Damen und Herren,


Eine Hamburgerin über den Sommer 1943: „Der 27. Juli war ein herrlicher Sommertag, die Menschen zog es in Parks und Kneipen. Dann brach das Inferno los …“


Ein DJ aus Kiew, 2023: „Ich war abends feiern und spät im Bett. Gegen fünf Uhr morgens bin ich von den Explosionen geweckt worden. Dann schnell in den Keller.“


Ein Hamburger erinnert sich an den Feuersturm 1943: „Mein neunjähriger Bruder fiel in flüssigen Phosphor, die Knie verbrannt bis auf die Knochen, beim Versuch die Flammen auszuschlagen auch die Hände …“


Eine Frau aus Charkiw beschreibt 2022: „Ein Wohnblock wurde zerstört. Überall war Blut, ich sah Menschen auf der Straße liegen, denen Körperteile fehlten.“


Ein Hamburger über seine Flucht 1943: „Ich wollte die Menschen nach dem Weg fragen, die im Park saßen und lagen. Doch als ich näher kam, sah ich: Sie waren alle tot …“


Eine Mutter aus Charkiw, 2022: „Es herrschte Panik, Gedränge und Angst. Alle versuchten verzweifelt, in die überfüllten Züge zu kommen. Solche Szenen hatten wir in Filmen über den Zweiten Weltkrieg gesehen. Am 2. März erlebten wir es selbst.“


Meine Damen und Herren, die Zitate Überlebender des Feuersturms von 1943 weisen einen verstörenden Gegenwartsbezug auf. 


Ausgelöst durch aktuelle Nachrichten fühlen sich viele Zeitzeug:innen an ihre eigene Kindheit erinnert, sind alten Ängsten ausgeliefert und beginnen mitunter als Hochbetagte das erste Mal über Erlebtes zu sprechen. 


Die Erinnerungen haben sich bei allen sprichwörtlich ins Gedächtnis gebrannt und ihr gesamtes Leben beeinflusst.


So wie diesen Hamburger:innen vor 80 Jahren erging es damals auch den Bewohner:innen anderer Großstädte: Dresden, Berlin, große Teile des Ruhrgebiets. Das ist Teil der deutschen Erinnerungskultur. 


Guernica, Warschau, Rotterdam oder Coventry sind da schon weit weniger verankert. Hanoi und Saigon erlebten schreckliche Luftangriffe. 


Ausgebombte aus Aleppo, Damaskus oder Homs, aus Bagdad, Basra oder Mossul oder gar aus Kandahar, Kabul oder Kunduz freuen sich, wenn sie überhaupt als Flüchtlinge gelten und hier freundlich aufgenommen werden.


Der heutige Tag soll uns zur Auseinandersetzung mit Krieg mahnen. 
Die Deutschen haben den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu verantworten, mit mehr als 60 Millionen Toten.


Ohne die Luftangriffe der Alliierten wäre Nazi-Deutschland womöglich nicht besiegt worden. Das Ausmaß der Zerstörung für die Zivilbevölkerung ist bis heute unvorstellbar, auf beiden Seiten.


Zwei Flugstunden von uns entfernt herrscht wieder Krieg, mitten in Europa. Zu einer schwierigen, aber unausweichlichen Einsicht ist uns geworden: 
Rüstung verhindert Kriege offenbar ebensowenig wie Diplomatie; Waffen alleine beenden den Krieg genauso wenig wie diplomatische Gespräche.


Und so müssen Waffenlieferungen an die Ukraine und ein Aufrüsten der NATO dazu dienen, unsere europäischen Außengrenzen zu sichern. Gleichzeitig muss der Austausch mit unseren demokratischen Partnern höchste Priorität haben. 


Um unsere Menschlichkeit, Freiheit und Demokratie zu verteidigen!


In einer Zeit, in der Populismus und Rassismus auch hierzulande spürbar zunehmen und Politiker:innen mit antidemokratischer Gesinnung gewählt werden, kann nicht oft genug betont werden: 
Unsere demokratischen Grundwerte sind die Basis für ein Leben in Frieden und Sicherheit. 
Dazu zählt auch eine lebendige Erinnerungskultur, die Arbeit gegen das Verleugnen und ein mehr oder weniger aktives Verdrängen. 


Teil dessen sind unsere Gedenk- und Lernorte, wie dieses Mahnmal St. Nikolai hier. 
Sie sind einerseits Beweise, um die Verbrechen zu belegen, sie dokumentieren das Unbegreifliche.
Ich weiß, dass es immer wieder Stimmen gibt, die die Idee, man könne erfolgreich vor Gegenwärtigem warnen, wenn man zeige, wohin das einmal geführt habe, für nicht besonders gut halten, 

und überhaupt sei das Lernen aus der Geschichte eine fragwürdige Angelegenheit. Ja – und ja, trotzdem. 


Um Wolfgang Thierses Frage zu beantworten, wo man heute noch in der Schule lerne, dass man keine Menschen anzünde: Gar nicht, das weiß man. Aber es schadet sicher nicht, sich ab und an zu versichern, dass diese Haltung richtig ist. 


Auch dazu dienen – andererseits - diese besonderen Erinnerungsorte. Nicht sie müssen ihre Existenz vor uns rechtfertigen, sondern wir vor ihnen unsere Einstellungen und Lebensmodalitäten. Und die dürfen gerne ab und an auf den Prüfstand. 


Meine Damen und Herren, ich möchte daher die Arbeit von Wissenschaftler:innen, Psycholog:innen und bürgerschaftlichen Initiativen wie dem Förderkreis des Mahnmals St. Nikolai würdigen. Sie schaffen eine dritte wichtige Bedeutung dieses Ortes: 


Nämlich durch die Möglichkeit für Überlebende des Feuersturms, ihre Geschichten zu erzählen – so wie Harald Hinsch heute hier. So werden Räume für Heilung, Erkenntnis und Austausch geschaffen. 


Für diesen so wichtigen Beitrag zu einer aktiven Erinnerungskultur in unserer Stadt – und das schließt ausdrücklich auch die anschließende künstlerische Verarbeitung mit ein, lieber Herr Batz -  danke ich Ihnen im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft herzlich.
Zu erinnern und zu lernen bedeutet auch, Solidarität zu empfinden mit Menschen, die in ähnlichen Lagen sind.


Und so wünsche ich mir, dass wir noch mehr solcher Angebote für alle in unsere Hansestadt Geflüchteten schaffen – egal, ob aus Kiew, Bagdad oder Kabul: dass sie nicht alleine gelassen werden, sondern erzählen und reflektieren dürfen.


Damit sich Geschehnisse wie im Sommer 1943 hier in Hamburg nicht wiederholen, niemals!


Vielen Dank.

Datum: Sonntag, 23. Juli 2023, 15:30 Uhr
Ort: Mahnmal Sankt Nikolai