Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit am Volkstrauertag

Es gilt das gesprochene Wort!



Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
verehrte Vertreter:innen des Konsularischen Korps,
der Kirchen und Religionsgemeinschaften,
sowie der Parlamente,
ich begrüße Sie, liebe Frau Henning, 
liebe Frau Koop, lieber Herr Romey, lieber Dr. von Wrochem,

 

im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie zum heutigen Gedenken am Volkstrauertag auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme.


Wir gedenken gemeinsam der Opfer des nationalsozialistischen Terrors und der Toten zweier Weltkriege, so, wie wir es seit vielen Jahren tun. Das entspricht der Tradition dieses Tages. 
„Nie wieder!“ – das war, das ist unser gemeinsames Bekenntnis über alle sonst vielleicht bestehenden Differenzen hinweg. 


Wir haben es bisher so betont, als gehe es um Vergangenes. Wir haben so getan, als sprächen wir über langsam verblassende Geschehnisse, an die man sich erinnern sollte, die aber auf der anderen Seite weit, weit zurückliegen. Wir haben so getan, als gäbe es Krieg, Terror und Gewalt heute nicht mehr. 


Seien wir ehrlich miteinander: 
Das hat noch nie gestimmt. Krieg, Unterdrückung, Terror, Mord und Gewalt hat es immer wieder gegeben. 
Indien, Myamar, Algerien, Ungarn, Korea, Angola, Vietnam, Kongo, Uganda, Kuba, Falkland, Grenada, Afghanistan, Syrien, die Golfkriege – das war weit weg. 


Der Krieg auf dem Balkan Ende des vergangenen Jahrhunderts war schon näher. 


Aber seit dem 24. Februar dieses Jahres erleben wir, was der Begriff Krieg ganz konkret in der Gegenwart bedeutet. 


Der Einmarsch der russischen Armee in das friedliche Nachbarland Ukraine ist der bislang größte Zivilisationsbruch in der jüngeren europäischen Geschichte. Das muss gerade am Volkstrauertag benannt werden. 


Man kann nicht über die Schrecken zweier Weltkriege sprechen, ohne das Elend, das in einem europäischen Nachbarland angerichtet wird, mitzudenken. 
Tod und Elend seit nunmehr 262 Tagen. Tagtäglich, und mit gnadenloser Brutalität. 
Dieser Angriffskrieg mag noch immer in einiger Entfernung stattfinden. Aber im Ernst: Gott sei Dank sorgt die mediale Vermittlung dafür, dass Mord, Tod und Vergewaltigung sehr präsent sind. Und hinzu kommen die erschreckenden Berichte der ukrainischen Flüchtlinge in unserer Stadt.
Denn es ist nicht wirklich weit weg. Und es nimmt uns nicht nur mit. Nein: Es betrifft uns!


Der Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf die Freiheit, auf unsere westliche Lebensweise, auf die individuellen Möglichkeiten, die wir als Europäerinnen und Europäer besitzen. 
Würden wir nicht helfen, dann - ja, dann gäben wir auch das „nie wieder“ auf, das uns zum Leitgedanken am Volkstrauertag geworden ist – und damit auch ein Stück von uns selber.
Wir würden auch das Vermächtnis derjenigen, die hier im ehemaligen Konzentrationslager so sehr gelitten haben, aufgeben.

Dieses gemauerte Mahnmal trägt das Versprechen:


„EUER LEIDEN, EUER KAMPF UND EUER 
TOD SOLLEN NICHT VERGESSEN SEIN“


Die Worte richten sich an die ehemaligen Insassen von Neuengamme. Ihnen gilt immerwährend das Versprechen, das auch uns Nachgeborene verpflichtet.
Den Krieg und das Leid unserer Zeit in den Blick zu nehmen, bedeutet nicht für einen Millimeter oder eine Sekunde, das damalige Leid, unsere Schuld und dieses Versprechen zu relativieren oder gar zu vergleichen. 


Wir werden niemals vergessen, dass das menschenverachtende Treiben hier in Deutschland, auch in Hamburg stattgefunden hat. Aber wir müssen und werden auch eintreten für Menschenrechte überall, wo diese in Gefahr sind.


Nicht vergessen! – Diesem Leitgedanken ist auch die Hamburgische Bürgerschaft verpflichtet. Sie widmet den Opfern des Nationalsozialismus seit langer Zeit durch den Gedenktag am 27. Januar besondere Aufmerksamkeit. 


Zudem hat die Bürgerschaft Anfang des Jahres mit sehr großer Mehrheit beschlossen, den 8. Mai – und damit das Ende des fürchterlichen Zweiten Weltkrieges in Europa – auch in Hamburg zum offiziellen Gedenktag zu machen. 


Wir sind überzeugt, dass Gedenken und Erinnern wichtig, ja notwendig sind, um eine Wiederkehr des Bösen zu verhindern.


Verehrte Gäste,

zum Glück gibt es zwischen all dem Bösen immer auch die Aufrechten. 
Die tapferen Frauen und Männer der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial haben Zeugnisse aus der stalinistischen Zeit geborgen, gesammelt, bewahrt. 


Auch ihr Ziel war ein „NIE WIEDER“.
Nie wieder Menschenrechtsverletzungen wie in den Jahrzehnten des Gulags war ihr dringlicher Appell. 
Am 7. Oktober wurde Memorial der Friedensnobelpreis zuerkannt. Am selben Tag hat ein Moskauer Gericht die Beschlagnahmung der Memorial-Büros angeordnet. Und nun führt Russland mitten in Europa einen Angriffskrieg.


Unsere Städtepartnerschaft mit St. Petersburg hat fast 65 Jahre einen Weg der Annäherung und Verständigung beschreiten können, der für Menschen auf beiden Seiten Stabilität und Verlässlichkeit bringen sollte. 


65 Jahre! 
All das ist auf einen Schlag kaputt gemacht worden. Kann das jemals repariert werden? 
Ich persönlich sage: ja, es muss! 


Es wird ein „nach dem Krieg“ geben, und wir dürfen niemals die Hoffnung aufgeben, dass am Ende Vernunft oder wenigstens Einsicht gewinnen werden.
Das Versprechen an die ehemaligen Insassen von Neuengamme, nicht zu vergessen und damit das Schreckliche und Unmenschliche dieser Zeit in unseren Köpfen und Herzen präsent zu halten, verpflichtet uns. 


Wir haben es gemeinsam geschafft, eine Versöhnung herbeizuführen. Die Verbrechen können nicht ungeschehen gemacht werden, aber eine Aussöhnung ist möglich. 


Jede Form von Menschenverachtung und Rassismus muss geächtet werden. Dies gilt in außenpolitischen Zusammenhängen ebenso, etwa dem Verhalten gegenüber Russland, wie im Alltäglichen hier bei uns in Hamburg.


Ob es im Oktober 2020 der Angriff auf den jüdischen Studenten Ari, der mit seiner Kippa aus der Synagoge an der Hohen Weide kam; oder im September letzten Jahres die Pöbeleien und Attacke gegen Teilnehmer einer Mahnwache für Israel und gegen Antisemitismus in der Hamburger Innenstadt. 
Wir müssen alles daransetzen, dass sich Gewalt in all ihren Facetten nicht erneut breitmacht, und dabei niemals unser Bemühen um Frieden und Menschlichkeit aufgeben. 


Es ist keine Lösung, auf Gewalt und Terror mit Gegengewalt zu antworten. Rache ist die schlechteste Reaktion, wenn es um Aussöhnung und Menschlichkeit geht. 


„Meinen Hass bekommt ihr nicht!“ – 
diese Reaktion eines französischen Familienvaters, dessen Frau beim Terroranschlag auf den Club Bataclan in Paris ermordet wurde, ist die einzig mögliche, wenn man die Spirale der Gewalt nicht immer weiterdrehen will. 
Frieden gibt es nur mit - niemals gegeneinander.


Und wir müssen diese Hoffnung bewahren:
Es wird immer ein „danach“ geben, eine Zeit, in der wir wieder lernen müssen und hoffentlich auch lernen wollen, dass die Menschheit nur eine Überlebenschance hat, wenn wir die Aussöhnung suchen und uns mit Respekt begegnen.  
Deswegen gedenkt die Hamburgische Bürgerschaft der Opfer des Nationalsozialismus und der Toten beider Weltkriege stellvertretend auch für alle anderen Opfer von Krieg und Gewalt – gemeinsam mit dem Senat, dem Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge, der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Arbeitsausschuss der Organisationen ehemals Verfolgter.
 
Ich danke Franciska Henning, die als Nachkommin des Widerstandskämpfers Georg Kieras jetzt sprechen wird.
Vielen Dank.


Ich danke Ihnen.


Datum: Sonntag, 13. November 2022, 10.00 Uhr

Ort: Gedenkstätte Neuengamme