Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit anlässlich des Volkstrauertages

Es gilt das gesprochene Wort!



Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,

verehrte Vertreterinnen und Vertreter des Konsularischen Korps,

der Kirchen und Religionsgemeinschaften,

sowie der Parlamente,

liebe Frau Koop, lieber Herr Romey und Professor Garbe,

sehr geehrte Damen und Herren!

 

Im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie zum heutigen Gedenken am Volkstrauertag unter Ernst Barlachs „Denkmal für die Gefallenen beider Weltkriege“.

 

„NIE WIEDER“ – unter diesem Leitgedanken versichern wir uns alljährlich, dass Gewalt und Terror keinen Platz haben sollen in unserer freiheitlichen Gesellschaft, dass ein gerechter Frieden alles und Krieg keine Option ist.

NIE WIEDER – das wäre zweifellos ganz wunderbar.

 

Und in der Tat: in unserem Land herrscht nun seit mehr als 75 Jahren Frieden. In unserem Land – aber wir sollten uns auch stets vor Augen halten, dass es in diesen 75 Jahren niemals überall auf der Welt friedlich zuging. Jahr für Jahr und immer wieder flackern irgendwo Kriege auf, wird die Lebenswelt vor allem der Zivilbevölkerung, unbeteiligter Kinder und Minderheiten von einem auf den anderen Tag zerstört.

 

Das ist nicht immer weit weg. Was sich gerade an der Ostgrenze der EU abspielt, ist sehr nahe bei uns. Auf dem Balkan, im Süden der ERU, rüsten schon wieder Völkergruppen gegeneinander auf. Und auch bei uns im Land vergeht kein Jahr mehr ohne Übergriffe und Anschläge, zum Beispiel gegen die jüdische Bevölkerung, gegen Kommunalpolitiker oder unseren Rechtsstaat.

 

Wir können das nicht verhindern. Uns bleibt das NIE WIEDER, der Appell zu Frieden und Gerechtigkeit, und die Hoffnung, dass es uns gelingen möge, bei dieser Haltung zu bleiben und möglichst viele Menschen zu überzeugen.

Wir versuchen, die Menschen zu bewegen, indem wir sie erinnern. Wir gedenken regelhaft der Opfer von Krieg, Vertreibung und Diktatur. Wir gedenken an den Orten Hamburgs, wo uns erinnernde Zeichen den Blick zurück schmerzhaft einfach machen. Heute an Barlachs Stele anderntags zum Beispiel am Mahnmal St. Nikolai oder am Hannoverschen Bahnhof und vielen weiteren Erinnerungsorten. Zuletzt durfte ich im Zentrum Hamburgs den Georg-Elser-Platz widmen.

 

Meine Damen und Herren,

wir gedenken der Opfer des nationalsozialistischen Terrors und der Toten der beiden Weltkriege.

 

Wir rufen uns das Grauen von Krieg und Terror ins Gedächtnis, um den Gedanken des NIE WIEDER wach zu halten. 

Dies ist zu einer guten Tradition in unserem freiheitlichen Gemeinwesen geworden. Aber es war nicht immer so.

 

Lange genug wurden der Krieg und seine Opfer als legitimes Mittel der Politik gesehen. Die Hinterbliebenen fanden angesichts neuer Kriegerdenkmäler und Revanchegedanken keinen öffentlichen Platz zur Erinnerung an ihre Toten. Ihre Trauer durften sie nicht teilen.

 

Im Gegenteil, Tod und Opfer wurden systematisch ausgeblendet. So wurde auch diese Stele Ernst Barlachs in den Jahren 1938 bis 1949 entfernt, um Schmerz und Trauer der Mutter durch ein heroisch aufsteigendes Adlerbild zu ersetzen und zum Verstummen zu bringen.

 

Nach 1945, nach den unfassbaren Verbrechen, die im Deutschen Namen während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden, gab es eine Phase der Erschütterung, die zunächst in Verdrängung und ein Nicht-Zurückschauen-Wollen mündete.

 

Darüber kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass der Volkstrauertag 1950 als erste zentrale Veranstaltung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Bundestag zu Bonn neu belebt wurde.

 

Ein staatlich angesetztes Datum für kollektive Trauer hat seine Tücken. In einem freiheitlichen Staatswesen kann der Staat seinen Bürger:innen keine Gefühle aufzwingen. Er kann nur Gelegenheiten für ein gemeinsames Nachdenken schaffen.

 

Trotzdem setzt ein freiheitliches Staatswesen geistiger Verrohung – auf Basis einer verblendeten politischen oder religiösen Ideologie – zunächst Argumente entgegen. Nur weil diese nicht die Durchschlagskraft von Impfungen haben, sind sie nicht vergeblich.

 

 

Gedenken und Reden am Volkstrauertag sind keine leeren Rituale. Das Gedenken an diesem Tag hat im Laufe der Jahre eine Entwicklung zu mehr Realitätsbezug und Zukunftsverantwortung erlebt und wird sich auch weiter in diese Richtung entwickeln.

 

Nicht nur die Ereignisse in Hanau, Halle, am Bornplatz und anderen Orten verlangen danach.

 

Die präventiven Mittel sind:

Hinsehen,

Hinhören

und Folgen bedenken,

 

um den Widerstand gegen jegliche Form von Gewalt wach zu halten und zu stärken!

 

Auch diesem Tag wollen wir aus dem Gedenken eine Haltung für die Zukunft gewinnen, die auch für die anderen 364 Tage des Jahres Gültigkeit besitzt.

 

Im reichhaltigen Kulturangebot Hamburgs gibt es viele Erinnerungshelfer:innen, die diesen Gedanken stützen. Ausstellungen und szenische Lesungen unseres Landesparlaments, aber auch Diskussionen, Musik- und Theaterstücke, Aktivitäten an Schulen und Anlässe wie die jährliche Verleihung der Bertini-Preise: sie unterfüttern unsere Erinnerungen und die daraus resultierenden Gedanken.

Sie tragen eine Haltung in die Breite unserer Stadtgesellschaft. Dafür bin ich sehr dankbar.

 

Die Hamburgische Bürgerschaft und die zahlreichen anderen beteiligten Organisationen halten dieses Gedenken auch 76 Jahre nach der Befreiung wach.

Gemeinsam mit dem Senat, dem Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge, der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem Arbeitsausschuss der Organisationen ehemals Verfolgter.

 

Der Ungeist lässt sich nicht auslöschen, aber wir können ihn bändigen, ihm Einhalt gebieten. Dies meint das „NIE WIEDER“ aus dem Mund aller Demokratinnen und Demokraten!

 

Ich danke Ihnen.


Datum: Sonntag, 14. November 2021, 12.00 Uhr
Ort: 
Ernst-Barlach-Stele