Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zur Ausstellungseröffnung „Überlebt. Und nun? – NS-Verfolgte nach ihrer Befreiung in Hamburg“

Ausstellungseröffnung „Überlebt. Und nun? – NS-Verfolgte nach ihrer Befreiung in Hamburg“


 

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrter Herr Professor Bauche,
sehr geehrte Frau Dr. Hoffmann,
lieber Herr Professor Garbe.


Ich begrüße die Doyenne,

die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften,

die Mitglieder von Senat und Bürgerschaft;

sehr geehrte Damen und Herren!

 

Im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie sehr herzlich zur Eröffnung unserer Ausstellung

„Überlebt. Und nun?“

 

Meine Damen und Herren,

 

die Bürgerschaft befasst sich jedes Jahr um den Holocaust-Gedenktag herum mit den schrecklichen Geschehnissen in Deutschland und in Hamburg zur Zeit des Nationalsozialismus und in den Jahren danach.

Euthanasie-Ärzte waren hier schon Thema, oder furchtbare Juristen, oder auch effektive Sachbearbeiter, die Selektionen oder Transporte organisiert haben.

 

Mich erschüttert neben all den Gräueln immer wieder das Verhalten derer, die vermeintlich nichts Böses getan und angeblich nichts gewusst haben und die bis heute – oder heute wieder – nicht von Befreiung sprechen, sondern vom leider verlorenen Krieg.

 

In diesem Jahr, mit dieser Ausstellung nimmt diese Erschütterung eine neue Form an. Dazu komme ich später.

 

„Überlebt, und nun?“, lautet also der kurze, prägnante Titel, der die Gefühlslage der KZ-Häftlinge und der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den ersten Monaten nach ihrer Befreiung beschreibt.

 

Verschleppt, von jahrelanger Todesangst gequält, viele von ihnen krank und traumatisiert, heimat- und häufig sehr hilflos und ohne Gewissheit, wie es weitergeht:

So war die Situation auch in unserer Stadt für all jene Verfolgten, die den Nazi-Terror überlebt hatten.

 

Vor 75 Jahren wurden sie von britischen Soldaten befreit. Ausgemergelt, krank, psychisch zum Teil fast vollkommen zerstört durch die Jahre von Gewalt und Todesangst – und sie kamen in eine Umgebung, die genauso in Trümmern lag wie ihre eigenen Persönlichkeiten.

 

Meine Damen und Herren,

 

die Nazis wussten, was sie taten, und ihnen war durchaus klar, welche Verbrechen sie begangen hatten.

 

Deshalb hatte die SS in Hamburg und an anderen Orten am Ende ihrer Macht versucht, die Spuren ihrer Verbrechen zu vertuschen.

 

So waren das Hauptlager im KZ Neuengamme kurz vor dem Eintreffen der britischen Befreier vollständig geräumt und die Häftlinge fortgeschafft worden.

 

Doch die britischen Truppen entdeckten nach der kampflosen Übergabe Hamburgs am 3. Mai 1945 in der Stadt in mehr als 570 Lagern und Haftstätten noch rund 110.000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge. Ich wiederhole die Zahlen noch einmal, weil sie so unglaublich sind:

  • 570 Lager, also Lager wirklich überall in der Stadt
  • 110.000 überlebende Häftlinge und Zwangsarbeiter, also mehr als ein Zehntel der Hamburger Bevölkerung zu Kriegsende.

 

Diese Menschen waren aus ganz Europa nach Hamburg verschleppt worden.

 

Wie sollte es mit ihnen weitergehen? Wo findet man neuen Halt und Hilfe? Ein zumindest notdürftiges Dach über dem Kopf, Kleidung, etwas zu essen in dieser für die Meisten vollkommen fremden Stadt? Für sie alle stellte sich genau diese eine Frage: „Überlebt. Was nun?“

 

Die Briten bezeichneten die Befreiten als „displaced persons“ und brachten viele von ihnen erstmal in Camps aus Baracken und Nissenhütten unter.

Das größte dieser Standorte war auf dem heutigen Messegelände, andere gab es in Stellingen, in der Lederstraße am Altonaer Volkspark oder im Funkturmlager in Moorfleet.

 

Viele Camps waren auch in den vormaligen Zwangsarbeiterlagern eingerichtet, und die Befreiten mussten noch lange die schäbigen Verhältnisse ertragen: Stroh statt Betten, offene Latrinen, schlechtes Essen.

 

Viele ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangene besaßen nur das, was sie an ihrem Körper trugen. In der Ausstellung werden Sie sehen, dass das manchmal nur Unterwäsche oder eine übergeworfene Decke war.

 

Deshalb ordnete die britische Militärregierung im Mai 1945 über den Rundfunk an, dass die Hamburger und Hamburgerinnen saubere und intakte Kleidung an die Betroffenen abgeben sollten.

Trotz und auch in der eigenen Not wäre dies eine geringe Geste der Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit gewesen; von Wiedergutmachung will ich an dieser Stelle nicht sprechen.

 

Aber selbst dies, diese geringe Überlebenshilfe für Menschen, die jahrelang gefangen und gequält wurden, stieß bei einigen aus der Generation unserer Eltern oder Großeltern auf strikte Ablehnung und vielleicht auch Neid.

Das ging so weit, dass am 13. und 14. Juli 1945 Zwangsverschleppte angegriffen und mehrere von ihnen sogar getötet wurden. Daraufhin beschränkte die Militärregierung die Ausgehzeit in der Stadt.

 

Könnte es sein, meine Damen und Herren, dass es hier im Denken eine klare Verbindungslinie zu den Hirnen gibt, in denen heute Überfälle auf Flüchtlinge geplant werden?

 

Viele der damals Verfolgten hatten keinerlei Papiere, und somit fehlte jeder Nachweis über ihre Herkunft. Für die deutschen Verfolgten stellte die Kriminalpolizei – zum Teil nur widerwillig – Entlassungsscheine und provisorische Ausweise aus.

 

In der Ausstellung ist von Beispielen die Rede, bei denen ein Kriminalinspektor während der NS-Zeit zuständig war, eine Roma-Familie ins KZ schaffen zu lassen, und nach 1945 war er zuständig dafür, den Überlebenden Papiere zu verschaffen. Weitgehend ungebrochen in ihrer Karriere die einen, fast völlig zerstört die anderen, das ist ein Muster, dem man in der Zeit nach 1945 überall begegnet.

 

Viel Vertrauen hatten die Opfer gegenüber einer solchen Verwaltung verständlicherweise nicht. Umso wichtiger war deshalb die Selbsthilfe von NS-Verfolgten. Das „Komitee ehemaliger politischer Gefangener“ spielte eine hervorgehobene Rolle, wichtige Arbeit leisteten auch die Organisationen jüdischer Verfolgter. Sie unterstützten die Briten und die städtischen Behörden bei der Versorgung von Überlebenden.

 

Selbst 1950 lebten noch rund 4.000 „DPs“ in sechs Camps in Hamburg, deren Verwaltung nun in den Händen der Sozialbehörde lag.

 

Die Betroffenen wollten oder konnten nicht in ihre Heimatländer zurück und galten jetzt als sogenannte staatenlose Ausländer. In der Folge wurden sie weiter diskriminiert, von vielen Hamburgern und von den Behörden, zum Beispiel dadurch, dass sie keine  Wohnberechtigungsscheine bekamen.

Chef der Sozialbehörde war in diesen ersten Monaten nach Kriegsende übrigens noch ein Mann, der zuvor für Zwangssterilisationen und Überstellungen in Konzentrationslager verantwortlich gewesen war.

 

Meine Damen und Herren,

diese dramatische Situation für die NS-Opfer nach ihrer Befreiung und den Umgang mit ihnen in unserer Stadt beleuchtet unsere Ausstellung in der Rathausdiele.

 

Es ist die erschütternde Geschichte von Entwurzelung, materieller und seelischer Not und einer anhaltenden Diskriminierung, die weit in die Nachkriegszeit reichte, wenn wir nur mal an die über Jahrzehnte verhinderte Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter denken.

 

Meine Damen und Herren,

die Ausstellung: „Überlebt. Was nun? NS-Verfolgte in Hamburg nach ihrer Befreiung“, ist die 20. Ausstellung, welche die KZ-Gedenkstatte Neuengamme mit Unterstützung der Hamburgischen Bürgerschaft anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus entwickelt hat, zusammen mit der neu gegründeten „Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“.

 

Verehrte Gäste,

 

im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft danke ich der Kuratorin Alyn Beßmann und dem Kurator Lennart Onken sowie allen Beteiligten ganz herzlich für diese eindrucksvolle Ausstellung, deren Besuch ich allen Hamburgerinnen und Hamburgern nur empfehlen kann.

 

Ich darf diese Ausstellung heute im Beisein von Prof. Ulrich Bauche und Dr. Yonit Hoffman eröffnen, die im Anschluss zu uns sprechen werden. Der Kulturhistoriker Prof. Bauche wird über seinen im Widerstand aktiven Vater berichten und dessen sehr persönlichen Erinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit.

 

Dr. Hoffman ist Direktorin der Holocaust Community Services in Chicago und die Tochter des aus Hamburg deportierten Gerhard Hoffmann, der in der Ausstellung porträtiert wird.

Er hat als einziger seiner Familie die Deportation überlebt und hatte nach seiner Befreiung nur noch ein Ziel: das Land der Täter so schnell wie möglich zu verlassen. 

Dass beide Gäste heute bei uns sind, ist mir eine besondere Freude.

 

Meine Damen und Herren,

 

diese Ausstellung und unser würdiges Gedenken an alle NS-Opfer sind ein wichtiger Beitrag zur Stärkung unserer Demokratie. Sie zeigen uns, was droht, wenn wir unsere Freiheit verlieren würden. Dafür stehen erschreckende Beispiele wie die NSU-Morde, Anschläge auf Politiker oder der antisemitische Anschlag mit zwei Mordopfern in Halle, aber auch der alltägliche Hass und die Bedrohungen im Internet.

 

Meine Damen und Herren,

 

wir stehen nun am Beginn des Jahres 2020. Es mehren sich Vergleiche mit den zwanziger Jahren der Weimarer Republik: Wie bedroht ist unsere Demokratie, lautet die Frage. Ich finde, solche Vergleiche sind übertrieben. Ich halte unsere Demokratie für stark und wehrhaft. Zugleich stimme ich aber unserem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu. Er hat in seiner Weihnachtsansprache zu Recht darauf hingewiesen, dass wir die Demokratie brauchen, aber, dass die Demokratie jetzt auch uns braucht.

 

Ganz naheliegend braucht die Demokratie uns in Hamburg gerade jetzt, bei der bevorstehenden Bürgerschaftswahl.

Nur eine hohe Wahlbeteiligung verschafft den demokratischen Institutionen die nötige Legitimation.

 

Je mehr Menschen unsere Parlamente wählen, desto unglaubwürdiger werden diejenigen, die behaupten, „wir sind das Volk“.

Sie sind eine winzige, unbelehrbare Minderheit, das sollen sie auch bleiben, und deshalb gehen wir bitte am 23. Februar zur Wahl und stützen die Demokratie.

 

Meine Damen und Herren,

 

die Ausstellung verdeutlicht uns die Geschichte.

So etwas darf es in Deutschland und in Hamburg nie wieder geben.

Deshalb müssen sich alle Demokraten widersetzen – der Geschichtslosigkeit, der Verherrlichung von Rassismus, der Ausgrenzung und völkischem Nationalismus. Das ist unsere immerwährende Aufgabe.

 

Vielen Dank.

  

Datum: Donnerstag, 16. Januar 2020, 11.00 Uhr
Ort: Rathaus, Kaisersaal