Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit anlässlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Dr. Kirsten Boie

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte, liebe Frau Dr. Boie, 
sehr verehrte Ehrenbürger,
sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrte Doyenne,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Hamburgischen Bürgerschaft,
meine sehr verehrten Damen und Herren!


Wir haben eben im Plenarsaal von den Vorsitzenden aller Fraktionen gehört, wie sehr sie die Entscheidung des Senats begrüßen, Frau Kirsten Boie die Ehrenbürgerwürde zu verleihen, und ich möchte mit einer herzlichen Gratulation beginnen: 

Frau Boie, ich freue mich sehr, ich bin stolz auf die Stadt, die solche Ehrenbürgerinnen hervorbringt, und ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft.


Meine Damen und Herren,

als Mutter von drei Kindern ist Kirsten Boie für mich eine wirklich gute Bekannte. Immer wieder war sie abends bei uns zu Gast, in den paar Minuten Vorlesezeit am Bett des jeweils kleinsten Kindes, die eigentlich nur dem Kind und dem oder der Vorlesenden gehören. 


Kirsten Boie durfte oft dabei sein bei diesen „kostbarsten Minuten“, wie auch Maike Schiller es vor einigen Wochen in einem Kommentar im „Abendblatt“ so treffend beschrieben hat. 


Frau Boie, Sie waren oft dabei, und wir hatten gute Zeiten miteinander.


Dass es soweit kommen konnte, ist erstaunlich. 


Kirsten Boie hat eine ganze Menge falsch gemacht, wenn man nach der Ansicht bürgerlicher Kulturconnaisseure und Altphilologen geht. 


Neben Astrid Lindgren und Enid Blyton hat sie Groschenromane verschlungen, als Kind; mit Cowboys in Wildwest-Abenteuern die Prärie durchquert, mit Comtessen gebangt, mit großem Genuss verschlungen, was man gemeinhin „Schund“ nennt und was nach Meinung vieler wenn nicht den Charakter, so doch zumindest den Stil verdirbt.


Zunächst nur nebenbei las sie aber auch das, was man gemeinhin „gehobene Literatur“ nennt. Bekam als Elfjährige „Nathan den Weisen“ in die Finger – und war fasziniert von der Sprache. Eigentlich las sie wohl einfach irgendwie alles. 


Möglicherweise ist dies das eigentliche Geheimnis von Kerstin Boies doch so großem Erfolg: Sie kann den Sog fesselnder Geschichten entwickeln, aber sie weiß auch um den Zauber, den Sprache entfalten kann, und wie man Texte ganz ohne erhobenen Zeigefinger aufladen kann.


Die gelernte Lehrerin Kirsten Boie weiß, wie man die Köpfe von Kindern und Jugendlichen erreicht und welche Umwege man dabei manchmal machen muss. 


Und wie verschieden Kinder aufwachsen, wie verschieden sie dann auch sind, und wie unterschiedlich man sie folglich anzusprechen hat. 


Mit dem Schreiben begonnen hat Kirsten Boie früh, sobald sie begriffen hat, wie man mit Buchstaben Geschichten auf Papier bringen kann, da war sie ungefähr fünf Jahre alt.  


Dann wurden die Geschichten länger. 


Schriftstellerin als Beruf – ja, vorstellbar, dann aber wegen der unsicheren Aussichten verworfen und lieber sehr erfolgreich auf Lehramt studiert und promoviert. Schreiben? Na ja, vielleicht, nebenbei, wenn Zeit dafür bleibt.


Damals war die junge Lehrerin Boie gerade auf eigenen Wunsch an die noch viel jüngere Gesamtschule Mümmelmannsberg versetzt worden, was wohl das war, was manche gemeinhin als ‚Kulturschock‘ bezeichnen.

 

„Ich bin nicht heulend aus dem Klassenzimmer gerannt, aber ich war mehrmals kurz davor“, hat sie später gesagt.


Aber es war eben zugleich eine gewaltige Horizonterweiterung, und ich bin sicher, dass sich einige der damaligen Schülerinnen und Schüler in den Büchern von Kirsten Boie wiederfinden würden. 

Wenn sie sie denn lesen würden.


Das nämlich, auch dafür war die Erfahrung mit Mümmelmannsberg gut, das nämlich ist alles andere als selbstverständlich.  


Nicht alle hier im Saal können es sich vielleicht vorstellen, aber es gibt Kinder, sehr viele Kinder, auch hier bei uns in Hamburg, denen es nicht leicht gemacht wird, mit Büchern in Berührung zu kommen. Sie wachsen mit platten Geschichten auf irgendwelchen Bildschirmen auf, und sie lernen gar nicht kennen, wie man mit Worten zaubern und ‚Kino im Kopf‘ entstehen lassen kann.


Aber wenn sie dann mit einer Geschichte von Kirsten Boie in Berührung kommen, dann fühlt sich das so an:

„Ist jemand schon mal an einem Sommermorgen mit dem Fahrrad durch die Felder gefahren, wenn die Luft noch ein winziges bisschen kühl ist und die Vögel ihre Morgenlieder zwitschern und oben am Himmel die Sonne darauf wartet, alles richtig durchzuwärmen?“ 


Tara aus dem „Möwenweg“ lässt mit einem Satz die ganze Atmosphäre dieses beginnenden Tages entstehen.  – Und die Kinder lieben die Geschichten, ob gelesen, vorgelesen oder auch als Hörbuch.
 
Oder dieser Johannes, aus den Medlevingern, im Gespräch mit seiner Mutter, und nach drei Zeilen sind wir in der kleinen Wohnung und in der Szene: 

„Und?“ fragte sie, „wie sehe ich aus?“ Johannes fand, dass sie aussah wie immer. So viel änderten gezupfte Brauen und Wimperntusche und Make-Up und Lippenstift schließlich auch nicht. Aber das sagte er lieber nicht.“



So etwas sollten alle Kinder kennenlernen und erleben, und deshalb hat sich die erfolgreiche Autorin Kirsten Boie ebenso erfolgreich der Leseförderung verschrieben. 


Sie engagiert sich für das Projekt ‚Buchstart‘, sie lässt sich zu Lesungen in Schulen in Wilhelmsburg, auf der Veddel oder in Steilshoop einladen. Sie bringt die Geschichten zu jenen, denen sonst niemand vorliest. 


Indem sie ihnen Sprache und den Umgang damit nahebringt, verhilft sie den Kindern zu Möglichkeiten, ein stückweit selbstverständlicher mit Sprache und Schrift umzugehen. Nach wie vor ist die eigene Sprache ein Mittel der Identifizierung. 


„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein gesagt. Diese zu verrücken und zu überwinden ist eine emanzipatorische Aufgabe, die Kirsten Boie fast spielend löst. Dafür sollten wir ihr dankbar sein.


Schuld an allem ist übrigens das Jugendamt. Kirsten Boie wollte ein Kind adoptieren. „Geht nicht“, beschied das Amt, „das könne man nicht mit der gleichzeitigen Berufstätigkeit verantworten.“ 


Frau Boie entschied sich natürlich für die Kinder – welch ein Glück!

Sie hat später gesagt, sie habe sich damals überlegt, vielleicht Groschenromane zu schreiben; irgendetwas muss der Mensch ja tun, und als Kind hatten die ihr ja gefallen. 


Zum Glück kam es anders; beim Füttern ihres Sohnes, sagt sie, fiel ihr der Anfang einer Geschichte ein, und damit brach die Lawine los. Mehr als 100 Bücher sind es bis heute, und es ist nicht erkennbar, dass Kirsten Boie etwa demnächst aufhören will.


Immer wieder, seit nun bald 40 Jahren, sind es aktuelle Themen, mit denen Kirsten Boie ihre Leserinnen und Leser begeistert. 


Stets weckt sie Verständnis und lehrt die jungen Leserinnen und Leser quasi nebenbei, Empathie, Aufmerksamkeit und Kreativität zu entwickeln. Die Kinder und Jugendlichen, die heute ihre Bücher lesen, werden morgen die Welt gestalten. 


Astrid Lindgren hat einmal gesagt: 

„Wie die Welt von morgen aussehen wird, hängt in großem Maß von der Einbildungskraft jener ab, die gerade jetzt lesen lernen.“


Sie hat Recht, glaube ich, und wenn die Einbildungskraft der Weltgestalter von morgen heute von Kirsten Boies Geschichten beeinflusst und geprägt werden, dann ist mir nicht bange um, das, was sie daraus machen.


Liebe Frau Dr. Boie,
Ihre besondere Gabe und Schaffenskraft strahlt weit über unsere Landesgrenze hinaus und macht sie so auch zur Botschafterin für unsere Freie und Hansestadt. 
Im Namen unseres Landesparlaments noch einmal herzlichen Glückwunsch zur Ehrenbürgerschaft.


Datum: Mittwoch, 18. November 2019, 19.30 Uhr
Ort: Rathaus, Großer Festsaal