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NSU-Komplex: Beginn der wissenschaftlichen Aufarbeitung

14. Februar 2025 Hamburgische Bürgerschaft arbeitet NSU-Mord an Süleyman Taşköprü in einem interdisziplinären Forschungsprojekt wissenschaftlich auf.

Die Taten des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) zählen zu den erschreckendsten Terroranschlägen in der jüngeren deutschen Geschichte. Die Taten konnten nie vollständig aufgeklärt werden, die Ermittlungen gingen zunächst mit falschen Verdächtigungen einher. Hierfür bat die Bürgerschaft 2018 die Angehörigen um Entschuldigung. Nach wie vor ungeklärt ist, wie über einen so langen Zeitraum so viele Taten unentdeckt begangen werden konnten.

Die Hamburgische Bürgerschaft hat nun ein Forschungsteam mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung des NSU-Mordes in Hamburg beauftragt. Im Rahmen einer Studie sollen die Geschehnisse und Ermittlungen rund um den Mord an Süleyman Taşköprü am 27.6.2001 durch die Terrororganisation NSU in Hamburg durchleuchtet und ein unabhängiges, umfassendes Gutachten erstellt werden.

Das mit breiter Mehrheit im April 2023 beschlossene (Drs. 22/11561), von den Regierungsfraktionen initiierte Projekt wird von der Präsidentin der Bürgerschaft verantwortet und durch einen Beirat des Parlaments begleitet. Aktuell beteiligen sich Abgeordnete von SPD, Grünen, CDU und LINKEN. Der Beirat hat sich nach einem sorgfältigen Auswahlverfahren einstimmig für das Konzept der Ruhr-Universität Bochum zur wissenschaftlichen Ausarbeitung ausgesprochen.

Das Konzept sieht vor, dass der NSU-Komplex in Hamburg interdisziplinär untersucht wird. Neben juristischen und kriminologischen Methoden sollen auch qualitative sozialwissenschaftliche Interviews und Analysen der politischen Strukturen in Hamburg helfen, die Ereignisse zu rekonstruieren. Mit zeitgeschichtlichen, strafrechtlichen, verwaltungswissenschaftlichen und polizeisoziologischen Kompetenzen bringt das Forschungsteam Expertise in diversen Disziplinen mit. Damit geht das Vorhaben deutlich über die Möglichkeiten eines Untersuchungsausschusses hinaus.

Die Professor:innen Dr. Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum), Dr. Daniela Hunold (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin), Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy (Universität Bielefeld) und Dr. Wolfgang Seibel (Universität Konstanz) werden auch die organisatorischen, kulturellen und stadtgeschichtlichen Faktoren in den Blick nehmen, die zu den folgenreichen Terroranschlägen führten. Dabei werden die Unterlagen zu den NSU-Ermittlungen von Polizei, Verfassungsschutz und Justiz sowie die Aussagen von Zeug:innen aus der Zeit im Fokus der wissenschaftlichen Aufarbeitung stehen.

Die Behörden bereiten bereits die ihrerseits erforderlichen Beiträge vor. Wie der Senat auf das bürgerschaftliche Ersuchen mitgeteilt hat, ist zwischenzeitlich eine Bestandsaufnahme zu den erbetenen Aktenbeständen erfolgt. Im Einzelnen sind bei der Polizei umfangreiche Bestände hinsichtlich des Ermittlungsverfahren Tötungsdelikt Taşköprü mit 141 Aktenordnern und 181 Sachakten sowie Unterlagen beim Landeskriminalamt zum Fall vorhanden, zudem Unterlagen der Abteilung Staatsschutz mit u.a. 20 Aktenordnern zum Phänomenbereich Rechtsextremismus, diverse Materialien und auch elektronische Dateien. Teilweise sind für die Auswertung Freigaben der Bundesanwaltschaft erforderlich. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) Hamburg hat rund 500 Akten mit insgesamt ca. 250.000 Blatt identifiziert, die im Zusammenhang mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes relevant sein könnten. Dieser Aktenbestand bleibt mindestens bis zum Abschluss der wissenschaftlichen Aufarbeitung vollständig erhalten und beim LfV verfügbar. Er wurde in den zurückliegenden Monaten digitalisiert, um ihn für die wissenschaftliche Untersuchung zur Verfügung zu stellen. (vgl. Drs.22/18070)

Carola Veit, Bürgerschaftspräsidentin: „Gut vorbereitet geht die wissenschaftliche Aufarbeitung jetzt endlich los: Die Forschenden erhalten vollumfängliche Akteneinsicht, ganz wie ein Untersuchungsausschuss. Ich bin unserem Verfassungsschutz und unserer Polizei dankbar für ihre Kooperationsbereitschaft. Das ist ein bisher in der Landespolitik einzigartiges Projekt. Ich bin froh, dass wir nun diesen neuen Weg gehen. Damit soll deutlich werden, dass die Opfer nie vergessen werden. Die Aufarbeitung soll dazu beitragen, dass sich rechte Gewalttaten und der NSU-Terror in Hamburg nicht wiederholen. Alle Bürger:innen sollen sich in unserer Stadt sicher fühlen, die Bürgerschaft stellt sich dieser Verantwortung. Das sind wir den Opfern und ihren Angehörigen schuldig. Gleichzeitig bietet der neue Blickwinkel auf Hintergründe und Zusammenhänge die Chance, Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen."

Constantin Goschler, Prof und Sprecher des Wissenschaftsteams: „Wir sind dankbar für das große Vertrauen, dass die Hamburger Bürgerschaft einer wissenschaftlichen Aufarbeitung entgegenbringt. Wir sind keine schneidige Untersuchungsausschussvorsitzende, Super-Cops oder hellseherische Profiler, die nun bislang unentdeckte Tatspuren und Hintermänner oder -frauen aufdecken können. In anderer Hinsicht sind wir aber durchaus Fallanalytiker: Unser Fall, den wir interdisziplinär zu lösen suchen, sind die polizeilichen Ermittlungen und die strafrechtliche Aufarbeitung in Hamburg, die selbst zu unserem Untersuchungsgegenstand werden. Diese sind ebenso im stadtgeschichtlichen Zusammenhang wie im Kontext der bundesweiten Auseinandersetzung mit den NSU-Morden zu interpretieren.“

Daniela Hunold, Prof: „Spezifische Organisationskulturen bei Polizei und Verfassungsschutz können zu stereotypen Vorstellungen von Tatverdächtigen führen. Aber staatliche Behörden agieren auch niemals im luftleeren Raum. Wie behördliches Handeln mit stadtspezifischen Bedingungen wie sicherheitspolitischen Programmatiken und dem öffentlichen Meinungsklima in Hamburg miteinander korrespondierten und somit zu gewissen Pfadabhängigkeiten in der Ermittlungsarbeit zum Mord an Süleyman Taşköprü führten, werden wir im Rahmen unseres Forschungsprojekts genauer untersuchen. Die breite Unterstützung durch die Hamburger Bürgerschaft sowie den beteiligten Behörden und die besondere Interdisziplinarität des Projektteams sind hervorragende Voraussetzung für eine gelungene wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Mordes in Hamburg.“

Charlotte Schmitt-Leonardy, Prof: „Die Forschungsgruppe beginnt ihre wissenschaftliche Aufarbeitung mit einem starken, überparteilichen Mandat und hat das Privileg, an die Arbeit der politischen Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene sowie die Erkenntnisse aus dem NSU-Strafverfahren anknüpfen zu können. Die besondere Chance liegt hier im interdisziplinären Ansatz: wir schauen aus den verschiedenen Perspektiven unserer Disziplinen auf die immer noch offenen – und damit für Hinterbliebene und Gesellschaft schwer zu verarbeitenden – Fragen und sind uns auch deshalb der Möglichkeit blinder Flecken bei der bisherigen Aufarbeitung sehr bewusst. Unser Fokus liegt auf den systemischen Aspekten, die zur Herausbildung und Verstetigung der falschen und irreführenden Ermittlungshypothesen („OK-Hypothese“, „Einzeltäter-Narrativ“ usw.) geführt haben. Erst wenn wir die strukturellen Defizite der Vergangenheit wirklich begreifen, minimieren wir die Wiederholungsgefahr für die Zukunft.“

Wolfgang Seibel, Prof: „Warum versteiften sich die polizeilichen Ermittlungen aller Mordkommissionen in fünf Bundesländern auf eine Hypothese, die sich als haltlos erwies? Das ist eine Schlüsselfrage unserer Untersuchung. Gemeinsam werden wir die organisatorischen, aber auch sozialen und kulturellen Dynamiken innerhalb von Polizei, Staatsschutz und Justiz bei den NSU-Ermittlungen in den Blick nehmen. In unserer interdisziplinären Untersuchungskommission vereinen sich zeitgeschichtliche, strafrechtliche, verwaltungswissenschaftliche und polizeisoziologische Kompetenzen.“

Das Forschungsteam

Constantin Goschler ist Professor für Zeitgeschichte und forscht unter anderem zu geheimen Nachrichtendiensten, zum Verhältnis von Sicherheit und Öffentlichkeit sowie zum Umgang mit Gewaltfolgen. Er war Mitautor einer grundlegenden Studie zum Bundesamt für Verfassungsschutz.

Daniela Hunold ist Expertin für Polizeisoziologie und forscht seit vielen Jahren zu Problemen und Herausforderungen polizeilichen Handelns in der Einwanderungsgesellschaft. Sie ist Mitherausgeberin des wissenschaftlichen Grundlagenbandes „Rassismus in der Polizei“ und arbeitete zuletzt mit einem Forscherteam an einer Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu Diskriminierungsrisiken durch die Polizei.

Charlotte Schmitt-Leonardy ist Expertin für Strafverfahrensrecht und interdisziplinäre Rechtsforschung. Zu ihren Forschungsschwerpunkten der letzten Jahre gehören: die Problematik komplexer Großverfahren, Akzeptanzbedingungen hoheitlicher Entscheidungen, Asymmetrien in der Strafprozessstruktur sowie Rechtsstaats- und Demokratieresilienz. Sie war von 2020-2022 Mitglied der Expertenkommission zur Verbesserung der Aufklärung komplexer Unglücksereignisse („Loveparade“).

Wolfgang Seibel ist ein Experte bei der Untersuchung von schwerwiegenden Fällen von Verwaltungsversagen. In seinem Reinhart Koselleck-Projekt „Schwarze Schwäne der Verwaltung“ deckte er die Muster hinter den verwaltungsorganisatorischen Dynamiken auf, die zu dramatischen Folgen führten: darunter die Todesfälle bei der Massenpanik während der Love Parade in Duisburg 2010 oder Behördenversagen beim Jugendschutz, der Bauaufsicht oder des Katastrophenschutzes, jeweils mit schwerwiegenden Folgen für Leib und Leben von Menschen.

Hintergrund

Der bisherige Forschungsstand zum NSU-Komplex ist insbesondere geprägt durch Ermittlungen von Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und Analysen des NSU-Strafverfahrens. In Hamburg erfolgte die Aufarbeitung im Innenausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft (Drs. 20/11661). Nach wie vor gibt es im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex jedoch offene Fragen, denen die Forschenden der Ruhr-Universität Bochum als unabhängige Stelle interdisziplinär mit ihren Kooperationspartner:innen nachgehen wird. Hamburg bietet damit einen neuen Beitrag zur Betrachtung des NSU-Komplexes an und wird so die Aufarbeitung voranbringen.

Um die wissenschaftliche Aufarbeitung zu begleiten, ist aus der Mitte des Parlamentes ein Beirat „Wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes“ zur Vorbereitung des Vergabeverfahrens gebildet worden mit Beteiligung der Fraktionen von SPD, Grünen, CDU und Linken. Mit dem LfV erörterte der Beirat unter anderem Sicherheitsfragen, den komplexen Aktenbestand und wie die Bereitstellung für die Forschenden umgesetzt werden kann. Der Beirat geht für die wissenschaftliche Aufarbeitung von einem Zeitraum von rund drei Jahren aus, regelmäßige Zwischenberichte sind vertraglich verabredet. Die Kosten belaufen sich auf rund 900.000 Euro.

Weitere Informationen zu dem Verfahren und dem weiteren Vorgehen finden Sie in der angehängten Drucksache 22/16857.

Kontakt:

Pressesprecherin der Hamburgischen Bürgerschaft

Barbara Ketelhut
Fax: 040 42731-2289