Ansprache des Ersten Vizepräsidenten Dietrich Wersich bei der zentralen Kranzniederlegung zum Volkstrauertag

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin, liebe Frau Fegebank,

Sehr geehrter Herr Dr. Landgrebe,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

 

im  Namen von Bürgerschaft und Senat begrüße ich Sie  zur zentralen Kranzniederlegung am heutigen Volkstrauertag.

 

Wir gedenken der Opfer von Krieg, Gewaltherrschaft und Terrorismus auf der ganzen Welt. Wir erinnern an die gefallenen Soldaten und an die Millionen getöteter Zivilisten in beiden Weltkriegen. Und ich füge hinzu: wir denken an die unzähligen Opfer des letzten Jahrhunderts mit Kolonialismus, Stalinismus und Kommunismus, mit Nationalismus und Totalitarismus. Aber zuvörderst gedenken wir voller Respekt und Würde der Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.

 

In der Freien und Hansestadt Hamburg bemühen wir uns um eine nachhaltige Erinnerungskultur. Wir setzen uns tiefgehend mit der nationalsozialistischen Geschichte unserer Heimatstadt und den Kriegsfolgen auseinander.

 

Der Hamburgischen Bürgerschaft liegt es sehr am Herzen, dabei den Blick auf die Opfer zu richten und diesen Menschen Namen und Gesichter zu geben. Nur so können wir ihnen die Würde zurückgeben, die man ihnen systematisch genommen hat.

 

Unsere jährlichen Ausstellungen im Rathaus oder die szenischen Lesungen anlässlich des Holocaust-Gedenktages geben zum Beispiel immer wieder neue Einblicke wie Menschen in diesem perfiden Nazi-System handelten, das Ethik und Moral korrumpierte und vor  Menschenleben keinen Halt machte.

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

die historischen Fakten sind bekannt. Und dennoch: Es ist so schwer, sich vorzustellen wie die Generationen unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern ein derart monströses Vernichtungssystem gefördert, geduldet und auch ertragen haben. Oder dessen Opfer wurden – wie Herr Gröll heute morgen in der KZ-Gedenkstelle Neuengamme so eindrucksvoll berichtet hat. Dies alles ist auch in unserer Heimatstadt Hamburg passiert. Der Massenmord an fast 50.000 Menschen, die in den Lagern des KZ Neuengamme drangsaliert, geschunden, gequält, gefoltert und getötet wurden, ist auch 70 Jahre danach schwierig in Worte zu fassen und kaum zu begreifen.

 

Das Schicksal der unvorstellbar vielen Menschen, die den staatlich organisierten Verbrechen der Jahre 1933 bis 1945 zum Opfer gefallen waren, macht mich immer wieder fassungslos: Juden, Christen, Roma und Sinti, Homosexuelle, Menschen mit Behinderung, politisch Andersdenkende, Männer und Frauen der Künste, der Wissenschaften sowie Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere Aufgabe ist es, diese Gräueltaten als Mahnung zu begreifen, zu was Menschen fähig sind – und neues Leid zu verhindern!

 

„Erinnerungskultur“ soll das leisten. Dabei besteht allerdings latent die Gefahr, dass die Gendenkveranstaltungen über die Jahrzehnte in Ritualen erstarren, die nur noch dem Selbstzweck dienen und damit ausgehöhlt werden.

 

Gerade 2017 – zum 500. Jahrestag der Reformation – ist dieses „Reformationsprinzip“ doch allfällig ins Bewusstsein gedrungen: Wir müssen immer wieder nach Veränderungen suchen, um den Kern der Dinge zu bewahren!

 

So hat sich die Arbeitsgruppe Volkstrauertag, zu der unter anderem die Bürgerschaft, der Senat, der Volksbund, die KZ-Gedenkstätte Neuengamme und der  Arbeitsausschuss der Organisationen ehemals Verfolgter gehören, entschieden, unterschiedliche Orte für die zentrale Kranzniederlegung am Volkstrauertag auszuwählen – aber alles Orte, die den Kern dieses Tages treffen.

 

In diesem Jahr sind wir zum ersten Mal am Hannoverschen Bahnhof. Von hier aus fuhren 20 Deportationszüge nach Ost- und Mitteleuropa: nach Belzec, Litzmannstadt, Minsk, Riga, Auschwitz, Teresienstadt. Vom Hannoverschen Bahnhof aus wurden – nach heutigem Wissensstand – 8.071 Juden, Roma und Sinti in Ghettos und Konzentrationslager gebracht.   

20 Namenstafeln erinnern auf diesem Platzt nicht nur an die 20 Züge, sondern vor allem an all die Männer, Frauen und Kinder, die aus ethnischen und religiösen Gründen von hier aus verschleppt und anschließend von anderen Männern und Frauen im Namen der nationalsozialistischen Ideologie gequält, erniedrigt oder ermordet wurden. 

Der Hannoversche Bahnhof ist für Hamburg ein Ort der Trauer - ja der Schande –, aber nach seiner Einweihung vor fünf Monaten nun endlich auch ein würdiger Ort des Gedenkens. Die Tafeln machen uns im wahrsten Sinne des Wortes namhaft, was hier mitten in Hamburg mit Mitbürgern geschah. Diese 8071 Männer, Frauen und Kinder wurden hier mitten aus ihrem Leben gerissen.

 

Das Denkmal erinnert nicht nur an die Opfer, sondern auch an die Täterinnen und Täter und an die institutionelle Mitschuld der Deutschen Reichsbahn und der Hamburger Behörden. Deshalb ist es wichtig, dass ganz in der Nähe des Denkmals ein zeitgemäßes Dokumentationszentrum entstehen wird, das ganz unterschiedliche Besucherinnen und Besucher ansprechen soll: Jugendliche und Ältere, geschichtlich Interessierte und solche, die wenig Vorwissen mitbringen, Zugewanderte und solche, die schon lange in Hamburg leben. Die Federführung liegt bei der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

 

Meine Damen und Herren,

wir wollen und wir müssen diesen Weg des Gedenkens fortsetzen und wir sind dankbar für alle Kräfte, die in dieser besten Absicht mitwirken.

So, wie es der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge seit nunmehr fast 100 Jahren leistet. „Versöhnung über den Gräbern – Arbeit für den Frieden“ ist das Leitmotiv, mit dem er seine wertvolle Erinnerungsarbeit gestaltet.


Die Erinnerungsarbeit lebt aber auch von dem unermüdlichen Engagement vieler einzelner Menschen – wie Sie, lieber Herr Dr. Detlev Landgrebe. In den vergangenen Jahrzehnten haben Sie sich in besonderer Weise um die Hamburgische Geschichte und gegen das Vergessen verdient gemacht. Deshalb freue ich mich besonders, dass Sie stellvertretend für die Opferverbände hier und heute zu uns sprechen. 

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Deutsche sind uns der Verantwortung bewusst, die aus der NS-Geschichte erwachsen ist. Diese Vergangenheit in eine Beziehung zur eigenen Gegenwart setzen und Lehren aus ihr für die Zukunft ziehen – so verstehe ich den Sinn unseres Erinnerns. Erinnern, das uns stärker macht, nach Freiheit und Demokratie zu streben – und sie auch heute zu verteidigen.

 

Wir können uns sehr glücklich schätzen, dass wir  in einem Zeitalter des europäischen Friedens leben. Wir haben vorhin gehört, dass es eben nicht für die ganze Welt so ist.  Dennoch dürfen wir nie die Augen davor verschließen, wenn sich in unserer Mitte Entwicklungen gegen Menschen oder Menschengruppen und die demokratischen Freiheitsrechte abzeichnen. Das wirksamste Mittel kann dagegen nur eine Gesellschaft sein, die von Respekt und Menschenwürde getragen wird.

 

Demagogie, Rassismus, Ausgrenzung und Hass dürfen in unserer vielfältigen Gesellschaft keinen Platz haben – nicht auf der Straße, nicht im Internet und schon gar nicht in Köpfen und Herzen unserer Mitmenschen. Von Politik und Parteien mit ihrer prägenden Bedeutung für die Meinungsbildung ganz zu schweigen. 

 

Das ist der gesellschaftliche Konsens unserer freiheitlich-demokratische Grundordnung. Dies immer wieder auch nachfolgenden Generationen und Menschen aus anderen Kulturen zu vermitteln, ist die Verpflichtung, die aus unserer Geschichte erwächst.

Das sind wir - nicht zuletzt - den Opfern schuldig.


Datum: 19. November um 12 Uhr
Ort: Gedenkort „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ im Lohsepark in der HafenCity