Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zur szenischen Lesung „Die Gesichter meines Vaters“ anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Gäste, Mitglieder von Bürgerschaft und Senat, sehr geehrter Herr Doyen, meine Damen und Herren, lieber Herr Batz!


Ich freue mich sehr, dass wir das heutige Gedenken wieder gemeinsam hier begehen können, nicht nur digital!

Schließlich geht es um Augenblicke, von denen man hinterher sagt, sie hätten einen „berührt“ oder „aufgerüttelt“.

Mehr, als jede Rede oder Dokumentation bringen die szenischen Lesungen, die Sie, lieber Herr Batz, für uns jedes Jahr aufs Neue entwerfen, immer viel Emotion mit sich; das Bedürfnis, darüber zu sprechen - und es gemeinsam auszuhalten.

 

Übermorgen, am 27. Januar, ist es 78 Jahre her, dass die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreite.

 

Zum einen gedenken wir der Millionen Opfer des Nationalsozialismus.

Zum zweiten versuchen wir zu verstehen, wie es zu diesem vollständigen Nullpunkt von Menschlichkeit, Anstand und Mitgefühl in Deutschland kommen konnte.

Und zum dritten überlegen wir gerade an diesen Tagen, wie und mit welchen Mitteln wir verhindern können, dass diese Unmenschlichkeit hier je wieder um sich greift. Vielleicht ist dies mittlerweile der wichtigste Aspekt, weil er in die Zukunft weist.

 

Übrigens ein Grund, weshalb wir seit Jahren nicht nur hier für Sie des Abends die Stücke aufführen, sondern auch tagsüber als Schüler:innenveranstaltung.

 

Dazu gibt es auch eine Dokumentation und ein Hörspiel, und damit möchten wir Hamburgs Schulen in jeder denkbaren Weise dabei unterstützen, die NS-Vergangenheit Hamburgs zu einem anschaulichen Lernthema zu machen.

 

In den vergangenen Jahren haben die szenischen Lesungen uns Zuhörer:innen von den Schicksalen unterschiedlicher Opfergruppen berichtet.


Im letzten Jahr, digital, ging es dabei um die Verfolgten, die mit dem schwarzen Wimpel gekennzeichnet wurden.

Für die heutige Lesung haben Sie, lieber Herr Batz, einen anderen Blickwinkel gewählt. Es geht um die Bilder und Geschichten, die die nationalsozialistischen Täter in den Köpfen ihrer Nachkommen hinterlassen haben.


Was haben sie erzählt?
Was haben sie verschwiegen?

 

Schweigen und Verdrängen:
das waren für viele Jahre der Nachkriegszeit die populären Strategien,

sich nicht der eigenen Geschichte zu stellen, sondern diese – wo immer möglich – unter den Teppich zu kehren.


Es war bequem, den millionenfachen Mord einzelnen Tätern oder Tätergruppen zuzuschreiben, statt, was richtiger gewesen wäre, uns dazu zu bekennen, dass auf Täterseite vermutlich ebenfalls Millionen beteiligt waren:


als Denunzianten, als Häscher, als Organisatoren von Transporten, als Verwaltungspersonal im Vernichtungslager, als Unternehmer und an anderer Stelle im mörderischen Mechanismus, als Nachbarn und Kollegen, die nichts hörten, sahen und erst recht nichts sagten.


Angeblich waren es irgendwelche verbrecherische Nazis, die all diese Taten begangen haben,

während eine sehr große Mehrheit den Eindruck vermittelte (und bis heute den Eindruck vermittelt) und erzählt, man habe von all dem nichts gewusst.


Nichts sagen - das blieb auch danach jahrzehntelang so.

Unter dem Motto „kein Blick zurück" wurde dieses Schweigen gesellschaftlich lange Zeit - aus unserer heutigen Sicht viel zu lang - geduldet, ja gefördert.

 

Unter dem Motto „kein Blick zurück“ wurde dieses Schweigen gesellschaftlich lange Zeit – aus unserer heutigen Sicht viel zu lang – geduldet, ja gefördert.
 
Im Zweifel wurden Täter zu Opfern oder Widerstandskämpfern umdefiniert.


Aber auch viele staatliche Stellen verweigerten diesen Blick zurück.
Zu viele Handelnde waren bruchlos von Staatsdiener:innen der Hitler-Diktatur zu Jurist:innen oder Verwaltungsbeamt:innen der neuen westdeutschen Demokratie geworden.


Erst die Bemühungen Fritz Bauers führten 1963 zum ersten Auschwitzprozess in der Bundesrepublik, bei dem etliche der ungeheuren Verbrechen erstmals ausführlich öffentlich dargelegt wurden.


Bei seiner Aufklärungsarbeit stieß er immer wieder auf hinhaltenden Widerstand der Jurist:innen, die mit ihrer beruflichen Vergangenheit während der NS-Zeit keineswegs abgeschlossen hatten.


Das brachte ihn zu der nüchternen Feststellung:

„Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland“.

Es war also ein zäher Prozess – auch hier in Hamburg – bis sich Nachfragen und Nachforschungen nach den Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von dem Vorwurf befreien konnten, man „wolle ja nur alten Schmutz aufwühlen“.

Die biographische Aufarbeitung ist eben noch einmal etwas ganz anderes, als die politische oder akademische.

So konnte das Verschwiegene, das Verdrängte, über Generationen hinweg weiter arbeiten - in der Gesellschaft und in Familien, auch wenn es vielleicht neue Symptome und Formen annahm.

 

Was macht nun dieses lautstarke Schweigen mit einem, wenn man – meist ja nur durch Zufälle oder eigenes Recherchieren – erfährt, dass der fürsorgende Vater, die liebevollen Großeltern oder der nette Onkel aktive Nazis waren und womöglich das Blut mehrfacher Morde an ihren Händen klebte?


Wir werden dies gleich durch die Zeitzeugenberichte der Nachfolgegenerationen exemplarisch zu hören bekommen.


Meine Damen und Herren,

auch diese Auseinandersetzung mit dem Wie und Warum uns lehrt, genau hinzusehen und genau hinzuhören,

damit keine Wiedergänger und Neonazis hier je wieder einen Fuß auf den Boden bekommen.

 

Lieber Herr Batz,

ich danke Ihnen, dass Sie auch in diesem Jahr – zum 25. Mal – Neues für uns recherchiert und aufgearbeitet haben!


Mein Dank gilt im gleichen Maße den Sprecher:innen Michael Weber, Marion Martienzen, Robin Brosch, Muriel Bielenberg und Mignon Remé sowie den erfahrenen Musikern Edgar Herzog an der Klarinette und Jakob Neubauer am Bajan!

 

Vielen Dank, dass auch Sie wieder mitmachen!

Und nun mache ich die Bühne frei für die szenische Lesung.


Datum: Mittwoch, 25. Januar 2023, 19.00 Uhr
Ort: 
Rathaus, Großer Festsaal