Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zur Eröffnung der Ausstellung "Der Tod ist ständig unter uns" anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrter Herr Leser, 
sehr geehrter Herr Zimmak,
lieber Herr Dr. von Wrochem, 
liebe Ehrenbürgerin Frau Dr. Boie,
sehr geehrter Doyen, 
liebe Vertreter:innen der Kirchen und Religionsgemeinschaften,
liebe Mitglieder der Bürgerschaft,
sehr geehrte Damen und Herren!


Im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie zu unserer diesjährigen Ausstellungseröffnung im Rathaus aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus. 


Sie werden und Sie dürfen nie vergessen werden, deshalb ist es viel mehr als eine Tradition, dass unser Landesparlament im Januar mit verschiedenen Veranstaltungen an die schrecklichen Verbrechen und Gräueltaten erinnert, die Deutsche, die die Generation unserer Großeltern oder sogar Eltern begangen hat. 


Ich nenne bewusst eine ganze Generation – denn wir sollten damit aufhören, den millionenfachen Mord einzelnen Täter:innen oder Tätergruppen zuzuschreiben. 


Das war immer bequem, aber richtiger wäre gewesen, hätten wir und dazu bekannt, dass auf Täterseite vermutlich ebenfalls Millionen beteiligt waren: 


Als Denunziant:innen, als Häscher, als Organisatoren von Transporten, als Verwaltungspersonal im Vernichtungslager, als Eisenbahner, Unternehmer und an anderer Stelle im mörderischen Mechanismus. Beteiligt waren auch Nachbar:innen und Kolleg:innen, die nichts hörten, sahen und erst recht nichts sagten.


Angeblich waren es irgendwelche verbrecherischen Nazis, die all diese Taten begangen haben, während eine sehr große Mehrheit den Eindruck vermittelte und bis heute den Eindruck vermittelt und erzählt, man habe von all dem nichts gewusst.


Nichts sagen – das bleib auch Jahrzehntelang so.


Wer an Gerichten moralisch Unrecht gesprochen hatte, bleib im Amt, wer in der Verwaltung Transporte, Massenmorde und Euthanasie organisiert hatte auch, wer im Betrieb bedenkenlos Zwangsarbeiter:innen eingesetzt hatte, ebenfalls, 
und wer sich in der Pogromnacht steinewerfend und brandschatzend beteiligt oder Bücherverbrennungen zugejubelt hatte, sah in der Regel auch keinen Anlass sich oder andere zu outen, zu bereuen oder gar über Wiedergutmachung zu sprechen. 


Dieses Verschweigen – als Haltung – hat dazu geführt, dass jahrzehntelang das Ausmaß der deutschen Schuld unter den Tisch gekehrt werden konnte.


1965 noch trat der damalige Bundesjustizminister zurück, weil er nicht durchsetzen konnte, dass es bei der 20-jährigen Verjährung der Morde der sogenannten Nazizeit blieb, was damals Gesetz war. 


Eine Mehrheit im Bundestag dehnte diese Frist zunächst um 5 Jahre aus. Es hat übrigens noch weitere Verlängerungen erfordert, bis die Gesellschaft zu der Auffassung kam, dass Mord nie verjähren darf. 


Verschweigen als Haltung: 


Das bleib so, bis Fritz Bauer es gegen alle Wiederstände fertigbrachte, einige Täter des Vernichtungslagers Ausschwitz vor Gericht zu bringen. 


Da wurde dann mit Metern von Akten und Dutzenden von Zeugenaussagen immerhin ein Ausschnitt der eigentlich unvorstellbaren Barbarei öffentlich. 


Vieles ist seitdem – in der Regel zu spät, um noch nennenswert Wiedergutmachung leisten zu können – ans Licht gebracht worden.


Meine Damen und Herren, 

es bleibt unsere Aufgabe, weiter zu fragen und zu forschen.


Wir werden niemals alles wissen, aber jedes Stück mehr Wahrheit schafft mehr Klarheit und hilft, die Vergangenheit zu verstehen – und die nötigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. 


Ein Beitrag dazu ist die jährlich wechselnde Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit der „Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen“ in der Rathausdiele präsentiert wird.


Besonders willkommen heißen möchte ich heute zwei ganz wichtige Personen, die hier zugegen sind: 


Sie, Herr Fred Leser, sind ein Überlebender der Deportationen. 


Am 6. Dezember 1941 wurde Ihre Familie vom Hannoverschen Bahnhof in Hamburg nach Riga deportiert. Sie überlebten als einziger aus Ihrer Familie. 


Sie, Herr Fred Zimmak, sind ein Angehöriger eines Deportierten. 


Ihr Vater Leonhard Zimmer wurde am 6. Dezember 1941 von Hamburg nach Riga in das Lager Jungfernhof deportiert… 


Dass Sie beide heute hier sind, freut und ehrt mich sehr! Herzlich willkommen! 


Hinter dem Titel der diesjährigen Ausstellung: „Der Tod ist ständig unter uns“ werden die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland beleuchtet. 


Riga war das Zentrum jüdischen Lebens in Lettland. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen im Juli 1941 wurde die Stadt zu einem Zielort von Deportationen und zum Tatort nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. 


Unter den Deportierten waren auch 753 Hamburger:innen. 


Der Hannoversche Bahnhof war Ausgangspunkt, aber auch Zwischenstation für Deportationen aus Norddeutschland nach Riga.


Mit der Ausstellung möchten wir dazu beitragen, die Deportationen nach Riga und das nationalsozialistische Morden im öffentlichen Gedenken zu verankern.


Sie soll helfen, das Unfassbare, das Unsagbare zum Sprechen zu bringen. 


Auch von den Plakaten dieser Ausstellung blicken uns die Augen von den Verfolgten an und fragen: 


„Wie war das möglich? Warum?“ 


Ganze Bibliotheken sind dazu geschrieben worden, ohne letzte Klarheit zu schaffen. 


Neid spielte eine Rolle, Unkenntnis, manchmal auch Angst vor Fremden, sicher oft tradierte Vorurteile, und vielfach ist Gedankenlosigkeit der Einstieg.


Die antijüdische Haltung zog sich jedenfalls durch alle Bevölkerungsschichten und wurde durch das Nationalsozialistische Regime in jeder denkbaren Weise gestützt, gefördert und gefordert. 


Der durch die Rassenideologie unterfütterte Dünkel gegenüber den jüdischen Gemeinschaften, sowie allen anderen Nicht-Arier:innen, verleitete viele Bürger:innen zur Passivität, wo einfacher Anstand, Menschlichkeit oder christliches Denken Widerstand geboten. 


Und dann diese ganz eigenartige Form der Schuldzuschreibung, die sich seit 1945 in Deutschland breitgemacht hatte: Wer nichts gewusst hat, angeblich, der oder die trage schließlich auch keine Schuld.


Wer so denkt, baut sein Geschichtsbild auf einer Lüge auf. Dieses Nichts-Gewusst-Haben ist eine ganz große Lebenslüge vieler Menschen, und es ist wohl die Keimzelle dafür, dass bei uns wieder Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Andere und auch perfide Selbsterhöhung Raum greifen. 


Unsere rechtsstaatliche Ordnung und die Freiheit der oder des Einzelnen erleichtern den Widerstand gegen solche Tendenzen um ein Vielfaches. 


Aber die Pflicht zum Hinsehen und Wahrnehmen bleibt dennoch keiner und keinem von uns erspart. 


Und wenn wir heute in Deutschland das Recht haben, uns gegen gruppenbezogene Menschenverachtung und Diskriminierung von Minderheiten oder Hass und Hetze zu wehren, dann sollen wir diese Rechte auch konsequent für uns und für andere nutzen.


DAS sind wir den Opfern schuldig.


Genau hinschauen, das ist heute, fast 80 Jahre danach, noch immer nicht einfach. 


Zeugen gibt es kaum noch, aufgeschrieben wurden seinerzeit nur Bruchstücke und das öffentliche Interesse fehlte Jahrzehntelang.


So sind die schrecklichen Taten von Riga zum Beispiel bisher nur wenigen ein Begriff.


Das wird sich mit dieser Ausstellung ein stückweit ändern.


Meine Damen und Herren, 

mein Dank für die Ausstellung geht an die KZ-Gedenkstätte Neuengamme. 


Die Einrichtung leistet in der Forschungsarbeit einen immensen Beitrag für die Erinnerungskultur in unserer Heimatstadt. 


Vielen Dank!

Datum: Freitag, 13. Januar 2023, 11.00 Uhr
Ort: 
Rathaus, Kaisersaal