Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit anlässlich des Senatsempfangs „70 Jahre Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg“

Es gilt das gesprochene Wort!



Sehr geehrter Herr Bürgermeister,

sehr geehrte Frau Präsidentin des Hamburgischen Verfassungsgerichts,

sehr geehrter Ehrenbürger Herr Prof. Otto,

sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Hamburger Gerichte,

sehr geehrte Abgeordnete des Bundestages,

liebe Kolleginnen und Kollegen der Hamburgischen Bürgerschaft,

sehr geehrter Herr Doyen,

meine sehr verehrten Damen und Herren!

 

Im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft darf ich Sie ebenfalls zur Feier des 70jährigen Bestehens unserer Landesverfassung sehr herzlich begrüßen.

 

70 Jahre Leben in Freiheit, Frieden, Wohlstand und Stabilität in einer demokratisch, rechtsstaatlich und sozial verfassten Freien und Hansestadt Hamburg - dieser runde Geburtstag ist Anlass zur Freude und Besinnung auf die Bedeutung und den Wert der Verfassung und auch auf die Geschichte ihres Entstehens.

 

Wenn wir von Geschichte sprechen, dann sind wir es gewohnt, die vergangenen Ereignisse mit den Namen von Personen zu verknüpfen.


Übertragen auf unser heutiges Thema wären das zwei Männer, beide Ehrenbürger unserer Stadt, und übrigens waren beide keine Juristen (und vielleicht –– vielleicht ist unsere Verfassung auch deshalb so klar nüchtern, sachlich und zumeist sehr gut verständlich ausgefallen!),

denen wir da unser vielleicht wichtigstes Gesetz verdanken.


Einen hat der 1. Bürgermeister eben erwähnt: Max Brauer, gelernter Glasbläser, als Erster Bürgermeister, und dann war da Adolph Schönfelder, gelernter Zimmermann, als Bürgerschaftspräsident.


Sie kann man wohl zu Recht als die Väter unserer Landesverfassung betrachten.

 

Eine demokratische Verfassung beschreibt und untermauert die Grundlagen für das Zusammenleben der Menschen in Staat und Gesellschaft.


Sie ist verfassungsrechtlicher Rahmen, Leitbild und Kompass für das gesellschaftliche und politische Geschehen. Aber sie wird in einer Demokratie nicht „gegeben“ wie die zehn Gebote oder ein kaiserlicher Erlass, sondern sie wird in langwierigen Diskussionen und Verhandlungen errungen.


Nur dann ist sie Spiegel der Gesellschaft und der jeweiligen Geschichte und öffnet Perspektiven für die Zukunft.

 

Deshalb will ich neben dem eben bereits zitierten Max Brauer den Blick meines Amtsvorgängers auf die Dinge erwähnen, und zwar mit der Schlussbemerkung Adolph Schönfelders in der Plenarsitzung am 4. Juni 1952 – der Tag, an dem unsere Bürgerschaft die Landesverfassung beschlossen hat:


„Die Verhandlungen der Bürgerschaft über diese Verfassung sind in beispielhafter Sachlichkeit geführt worden.

Als bei Beginn der Beratungen im Verfassungsausschuss die Frage erörtert wurde, mit welcher Mehrheit die Verfassung angenommen werden müsse oder ob nicht ein Volksentscheid notwendig sei, habe ich die Hoffnung ausgesprochen, daß unsere Beratungen ein Ergebnis haben möchten, daß die Bürgerschaft die Verfassung mit großer Mehrheit annehmen könne und dadurch das Problem gelöst sei.

Diese Hoffnung hat sich erfüllt. Die Verfassung ist nahezu einstimmig von uns angenommen worden. Auf beiden Seiten sind aus dem Willen zur Verständigung Opfer gebracht worden.“

 

Unsere Hamburgische Verfassung beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die länderspezifische Staatsorganisation zu regeln.


Ihr spätes Entstehen, es waren ja immerhin schon sieben Jahre seit Kriegsende vergangen, wird oft als Grund dafür gesehen.


Es gab inzwischen das Grundgesetz, an dessen Entstehung übrigens auch Adolph Schönfelder als stellvertretender Vorsitzender des verfassungsgebenden Parlamentarischen Rats beteiligt war, und was an Grundrechten und Staatszielen dort geregelt war, brauchte keine eigenen Hamburger Ausführungen mehr.


Der vielleicht wichtigste Vorteil dieses späten konstitutionellen Aufbruchs in eine neue Zeit:

Es gab nach der ernannten Bürgerschaft von 1946 mittlerweile die erste im Oktober 1949 frei gewählte Bürgerschaft, die der neuen Verfassung natürlich eine weitaus größere demokratische Legitimation verlieh.

 

Leicht war die Arbeit trotzdem nicht, denn es gab doch zum Teil sehr weit voneinander abweichende Vorstellungen.


Da war zum Beispiel das Groß-Hamburg-Gesetz von 1937, mit dem eine Reihe von zuvor selbstständigen Gebieten Teil unserer Stadt wurde.


Selbstverständlich erhoben sich nicht wenige Stimmen, vor allem aus Harburg, die diese „faschistische Willkür“ korrigiert wissen wollten, und es ist wohl nicht einfach gewesen, Hamburg in der uns allen bekannten und inzwischen sehr bewährten Größe zu erhalten. Auch der Nordstaat war ja übrigens in der Diskussion damals.


Und man musste sich während des Entstehungsprozesses immer wieder mit der Besatzungsmacht auseinandersetzen.


Das in Großbritannien übliche Mehrheitswahlrecht, nach dem 1946 noch die erste freie Bürgerschaft gewählt wurde, hatte dazu geführt, dass die Sozialdemokraten mit 43,1 Prozent der Stimmen gut drei Viertel der Sitze in der Bürgerschaft errangen.


Das könnte zwar an sich sehr bequem sein für einen Senat, aber es widersprach fundamental dem hiesigen Demokratieverständnis. Es war zum Beispiel die feste Überzeugung Max Brauers, dass zum Wohle des städtischen Gemeinwesens stets auch andere Meinungen angemessen vertreten sein müssten. 


So, wie es sich durch das Mehrheitswahlrecht ergeben hatte, sollte es jedenfalls nicht sein, und auch das musste erkämpft werden.

***


Am Ende stand jedenfalls dieses Werk, dessen 70. Geburtstag wir heute feiern. Unsere Verfassung hat sich bis heute bewährt, ist dabei aber nicht unverändert geblieben.


Willy Brandt hat – in anderem Zusammenhang – darauf hingewiesen, „dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. Demokratische Gebote sind nicht in Stein gemeißelt,


meine sehr verehrten Damen und Herren,

Demokratie ist nie „fertig“. Sie unterliegt immer den Entwicklungen in Gesellschaft und realem Verfassungsleben.


Im Laufe ihrer 70jährigen Geschichte hat die Bürgerschaft die Hamburgische Verfassung daher immer wieder – sehr behutsam – angepasst.

 

So haben wir heute ein bundesweit vorbildliches System plebiszitärer Elemente der direktdemokratischen Bürgerbeteiligung.


Direkte Demokratie und Volksabstimmungen – damit hatten sich die Gesetzgeber nach den Erfahrungen von 1933 bis 1945 schwergetan.


Sie hatten hautnah erlebt, wie leicht sich mittels Demagogie und Propaganda die öffentliche Meinung beeinflussen lässt.


Andererseits, das ist die andere Seite der Medaille, wünschte man sich manchmal auch die Möglichkeit, bedeutsame politische Entscheidungen mittels Volksabstimmung korrigieren oder herbeiführen zu können, Adolph Schönfelder hat darauf hingewiesen.


 Auch das war übrigens nicht neu, schon 1958 forderte Max Brauer eine bundesweite Volksabstimmung gegen den damaligen Plan einer atomaren Bewaffnung der noch jungen Bundeswehr.

 

Die Diskussion riss seither nicht ab, und erste zaghafte Vorläufer einer stärkeren Bürgerbeteiligung wurden eingeführt.


Mit drei Verfassungsänderungen hat die Bürgerschaft schließlich 2008, 2009 und 2015 die Volksgesetzgebung – gemeint sind hier Volksabstimmungen über Gesetze und andere Vorlagen – in zentralen Punkten nachdrücklich gestärkt.


Seither haben Volks- und Bürgerentscheide eine maximale Verbindlichkeit und übrigens können Senat und Bürgerschaft bei wichtigen Themen auch die Hamburgerinnen und Hamburger direkt nach ihrer Meinung fragen.


Und auch Wahlrechtsänderungen – inzwischen hatten wir hier ja eine grundlegende volksgewollte Reform – unterliegen grundsätzlich der Überprüfung durch die Hamburgerinnen und Hamburger.

Das ist gelebte Demokratie – hinter der wir uns aber nicht verstecken:


Für mich gibt es jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die Parlamente als gewählte Repräsentanten des Volkes das eigentliche Kraftzentrum politischer Willensbildung sind!


Und so regelt die Verfassung eben auch das Verhältnis zwischen Bürgerschaft und Senat. Idealtypisch soll das direkt vom Volk gewählte Parlament den ja nur indirekt gewählten Senat und seine Verwaltung kontrollieren.


Das kann natürlich kaum funktionieren, wenn sich dabei 121 ehrenamtlich arbeitende Abgeordnete vielen 10.000 Vollzeitkräften der Verwaltung gegenüberstehen.


Aber es hat immerhin bis 1996 gedauert, bis aus unserem Feierabend- schließlich das Teilzeitparlament wurde, also eine Regelung, die es den Abgeordneten ermöglicht, die sonstige Erwerbsarbeit zu reduzieren. Andererseits verpflichtet die Regelung das Parlament aber auch, seine Tätigkeit so zu organisieren, dass daneben eine Erwerbstätigkeit möglich ist. Das gibt jedenfalls Bodenhaftung, bei allen Belastungen.


Vieles mehr wurde angepasst und modernisiert, manchmal waren es – anders als bei der Volksgesetzgebung – gar nur einzelne Worte oder ein Satz.


2013 wurde unsere Wahlperiode ganz einvernehmlich von vier auf fünf Jahre verlängert, ich denke, das war durchaus wesentlich für die Qualität unserer politischen Arbeit.

 

Auch mit weiteren Verfassungsänderungen hat die Bürgerschaft gezeigt, dass sie den gesellschaftlichen Wandel stets im Blick hat, zum Beispiel haben wir sehr früh das Wahlrecht mit 16 eingeführt – andere diskutieren heute noch.


Auch 2020 den Klimaschutz als Staatsziel von Verfassungsrang in die Präambel aufzunehmen, ist erwähnenswert.


Um die Transparenz staatlichen Handelns zu erhöhen, wurde ebenfalls im Jahr 2020 die Verpflichtung der Verwaltung zu Bürgernähe und Transparenz auf Verfassungsebene verankert. Vor zwei Jahren schließlich haben wir vor dem Hintergrund einer sehr starken Regierungskoalition die parlamentarischen Minderheitsrechte gestärkt –

jedenfalls vorübergehend.

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Die vergangenen 70 Jahre können uns die Gewissheit geben, dass wir mit der Hamburgischen Verfassung ein starkes Fundament haben, das sich bewährt hat, und von dem aus aktuelle und künftige Herausforderungen bewältigt werden können.

 

Auch zukünftig werden weitere Anpassungen der Verfassung erforderlich sein.


Hierfür bedarf es eines kontinuierlichen Diskussionsprozesses, den wir führen, etwa im Hinblick auf ein klares Bekenntnis zur Bekämpfung des Nationalsozialismus, Antisemitismus und Extremismus. Auch ein Bekenntnis zu Europa, die Erwähnung von Kinderrechten und die ausdrückliche Schaffung einer Regelung, die eine paritätische Besetzung der Bürgerschaft ermöglicht, sind hier zu nennen.

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Ereignisse wie aktuell der Krieg in der Ukraine führen uns vor Augen, dass unsere Werteordnung nicht selbstverständlich ist, sondern Tag für Tag hart erkämpft werden muss, und dass wir nie aufhören dürfen, daran zu arbeiten.


Und Änderungen können nur dann Wirklichkeit werden, wenn die Bürgerinnen und Bürger sie wollen. Nur gemeinsam können wir den Rahmen, der unser Leben bestimmt, den Herausforderungen der Zeit anpassen.


Uns muss immer bewusst sein, wie verletzlich unsere Demokratie, unser Leben und unsere Sicherheit sind. Nach über 70 Jahren Frieden in Deutschland müssen wir, auch wenn die Bedrohung „nur“ mittelbar besteht, unsere Demokratie und unsere sicher geglaubten Werte verteidigen, weil sich jemand an keine Regeln mehr halten will.


Für die Zukunft wünsche ich uns ein friedliches Miteinander – innerhalb Deutschlands und im Zusammenleben mit anderen Ländern. Die verlässliche Grundlage dafür ist unsere Verfassung der FHH.


Herzlichen Dank.


Datum: Freitag, 01. Juli 2022, 11.00 Uhr

Ort: Rathaus, Großer Festsaal