Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zur Ausstellungseröffnung „Zwischen Zwangsfürsorge und KZ - Arme und unangepasste Menschen im nationalsozialistischen Hamburg“

Es gilt das gesprochene Wort!



Sehr geehrte Mitglieder von Bürgerschaft und Senat,

sehr geehrter Herr Professor Garbe,

sehr geehrte Angehörige der Opfer,

sehr geehrter Herr Haut,

sehr geehrte Vertreter:innen von Pflegen & Wohnen sowie Fördern & Wohnen,

sehr geehrte Damen und Herren,

 

im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie sehr herzlich zur Eröffnung der Ausstellung

Zwischen Zwangsfürsorge und KZ“!

 

Die Nationalsozialisten kennzeichneten und hierarchisierten ihre Feinde. Vom Judenstern, über den roten Winkel für die politischen Widersacher bis zum schwarzen Winkel für die in ihren Augen sogenannten „Asozialen“.

Und ich nehme das zum Anlass, die Opfer für das Handeln der Hamburger Verwaltung und leider auch mangelnde Kontrolle der Hamburgischen Bürgerschaft auch viele Jahre nach dem Krieg – um Entschuldigung zu bitten.

 

Unter diese Kategorie fielen Obdachlose, Prostituierte, Bettler:innen, Alkoholiker:innen oder Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie alle passten nicht in die NS-Ideologie. Sie wurden ausgegrenzt und entmündigt, in vielen Fällen auch zwangssterilisiert.

 

Das Beklemmende ist, dass die Politik in der späteren Bundesrepublik von diesen Nazi-Kategorien in mancher Weise beeinflusst blieb.

 

Der Prozess der Anerkennung der verschiedenen NS-Opfergruppen zog sich über Jahrzehnte hin. Es gab keinen Paukenschlag, mit dem etwa alle Insassen von Konzentrationslagern als NS-Opfer anerkannt wurden.

 

Nein, die viel zu späte Zusprechung des Opferstatus‘ folgte in der Bundesrepublik mehr oder minder den Gruppenzugehörigkeiten, die die Nationalsozialisten ihnen gegeben hatten. Erfunden, um für jeden der von ihnen definierten Feinde eine passende Kategorie zu haben.

 

So rehabilitierte der Deutsche Bundestag zum Beispiel erst 2002 die Deserteure der Wehrmacht und die wegen § 175 in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen.

57 Jahre nach Kriegsende.

 

Aber die vermeintlich „Asozialen“ waren auch zu diesem späten Zeitpunkt noch immer nicht als NS-Opfer anerkannt.
Sie mussten bis zum Beginn des Jahres 2020 auf ihre Rehabilitierung warten. Erst dann wurde ihnen der Verfolgten-Status vom Bundestag zugebilligt.

 

Im Übrigen gemeinsam mit jenen Menschen, die in der Sprache der Nationalsozialisten als „Berufsverbrecher“ benannt und mit dem grünen Wimpel kenntlich gemacht wurden.

 

Einen wichtigen Beitrag für dieses Umdenken leistete die Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte. Die Hamburgische Bürgerschaft hatte sie vor fast 35 Jahren einmütig beschlossen. Betroffene in Hamburg konnten seitdem – und können heute noch – Beihilfen erhalten.

 

Verehrte Gäste,

die Ausstellung zeigt uns, dass die Schicksale der Opfer auch eng mit den Örtlichkeiten ihrer Zwangsunterbringung verbunden waren.

So zum Beispiel die Verbrechen im Versorgungsheim Farmsen – der größten der „Bewahranstalten“ in Hamburg.

Es wäre sehr zu wünschen, dass hier mittelfristig ein weiterer Lern- und Gedenkort entsteht, der dieses wichtige Thema aufgreift und dauerhaft erfahrbar macht.

 

 

Es zeigt sich auch, dass mit der Kapitulation am 9. Mai 1945 sich die Verhältnisse für die weggesperrten sogenannten „Asozialen“ keineswegs schlagartig änderten.

Im Versorgungsheim Farmsen wurden keine Zwangseingewiesenen entlassen. Sie litten weiter.

 

Das verantwortliche Personal in Anstalten, Kliniken und Behörden blieb weitgehend identisch – und damit blieben auch Drangsalierung und Misshandlung der Entmündigten an der Tagesordnung.

 

Die Ausstellung zeigt, dass viele Verantwortliche nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ihre Tätigkeit bruch- und korrekturlos weiter betreiben konnten – wie wir es auch über viele andere Verbrechergruppen im Staatsdienst erfahren mussten.

 

Sie leistet also im besten Sinne Aufklärungsarbeit.

 

Verehrte Gäste

dafür, dass die Realisierung dieser Ausstellung überhaupt möglich wurde, danke ich der Kuratorin Frauke Steinhäuser gemeinsam mit Alyn Beßmann und Lennart Onken von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, den Projektverantwortlichen bei Pflegen & Wohnen, bei Fördern & Wohnen Hamburg und beim Freundeskreis KZ-Gedenkstätte Neuengamme für die beherzte Unterstützung dieser Aufklärungsarbeit.

 

Leider haben nur wenige persönlich Betroffene die öffentliche Entstigmatisierung durch den Deutschen Bundestag noch erleben dürfen. Umso mehr freue ich mich, dass wenigstens einige Angehörige von zwei Opfern, von Herrn Jacob Haut und von Herrn Dr. Ludwig Müller, heute unter uns sind:
ich danke Ihnen sehr für Ihr Kommen!

 

Meine Damen und Herren,

unser Erinnern bedeutet nicht nur das Sichtbarmachen des Leids von Menschen in der Nazi-Zeit. Es stellt auch Gegenwartsfragen an uns im Jahr 2022.

 

Das Wort „asozial“ ist keineswegs aus dem Gegenwartsdeutsch verschwunden. Der Duden führt es weiterhin. Im Internet finden sich mehr als 1,5 Millionen Treffer.

Wenn man sich den Umgang mit den Schwächeren und Randständigen unserer heutigen Gesellschaft ansieht, fragt man sich unweigerlich: werden wir dem Leitmotiv unseres Grundgesetzes, dass die Würde des Menschen unantastbar sein soll, tatsächlich gerecht?

Denken wir nicht noch immer viel zu häufig in solchen Kategorien?

 

Ich glaube, dass die Ausstellung uns die Antwort auf diese Frage nicht leichtmachen wird. Auch dafür bin ich den Verantwortlichen sehr dankbar!

 

Herzlichen Dank.


Datum: Freitag, 10. Juni 2022, 13.00 Uhr

Ort: Rathaus, Rathausdiele