Gedenkansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zum 60. Jahrestag der Hamburger Sturmflut

Es gilt das gesprochene Wort!



Verehrte Mitglieder der Hamburgischen Bürgerschaft,
sehr geehrte Damen und Herren,


heute Nacht ist es genau 60 Jahre her, es war eine Nacht von Freitag auf Sonnabend, dass Hamburgs Deiche an über 100 Stellen brachen und die Wassermassen der Elbe große Teile unserer Stadt überfluteten.


315 Menschen starben allein hier bei uns, Tausende wurden obdachlos. 


Ein Tiefdruckgebiet über der Nordsee hatte für heftigen Sturm gesorgt, der sich im Laufe des 16. Februar zu einem gewaltigen Orkan auswuchs. 


Hamburg, 80 Kilometer von der Elbmündung entfernt, wähnt sich in Sicherheit. Warum sollte hier Gefahr herrschen? Die letzte große Sturmflut liegt schließlich mehr als 130 Jahre zurück. 
Aber „Vincinette“, so hatte man den Sturm getauft, drückt unerbittlich die Wassermassen der Nordsee die Elbe hinauf. 


„Die Siegreiche“ erwies sich auf grausame Weise als sehr treffender Name. 


Sie blies so stark in die Elbmündung, dass die Vormittagsflut nicht ablaufen konnte, und das Abendhochwasser stieg in bis dato nie erreichte Höhen. 5,70 m wurden am Pegel St. Pauli gemessen, das war damals der höchste je erreichte Stand.


5,70 m – das war genau die Höhe, die Hamburgs Deiche eigentlich durchgehend haben sollten.
Ganz erreichten sie diese Höhe wohl nicht überall, und auch die Qualität der Deiche ließ zum Teil zu wünschen übrig – sie brachen gleich an mehreren Stellen. 


Ganze Ortsteile wurden überflutet, Finkenwerder, Altenwerder, Moorburg, Neuenfelde, Moorfleet und der Tiefstack sowie der Harburger Hafen und Teile der Hamburger Innenstadt – alles war überschwemmt, eine riesige Wasserfläche. 


Am schlimmsten traf es unsere Elbinsel Wilhelmsburg, vor allem Georgswerder und Moorwerder. 
Wer lebte hier? 


Familien, die während der Bombenangriffe vor nicht einmal 20 Jahren obdachlos geworden waren und sich hier Behelfsheime geschaffen hatten – ausgebaute Gartenlauben, kleine Häuschen aus einfachen Materialien, und die meisten waren ebenerdig gebaut. 


Das war verhängnisvoll. 


Wer sich irgendwie retten konnte, zum Beispiel auf das Dach, wenn die Hütte denn stehenblieb, der war noch lange nicht in Sicherheit – viele Menschen, die nicht ertrunken sind, erfroren, bevor Hilfe kam.


Aber wie konnte es zu einer Katastrophe diesen Ausmaßes kommen?


Ein vom Senat eingesetzter Sachverständigenausschuss kam zu dem Ergebnis, so richtig schuld sei eigentlich niemand gewesen. 


An der Vorhersage lag es nicht. Aber tatsächlich waren die Deiche in teils verheerendem Zustand, es gab kein funktionierendes Flutwarnsystem, keine umfassende Koordination der Rettungsdienste. 


Die Zuständigkeiten waren über mehrere Behörden verstreut, und viele Zuständige waren wohl auch überfordert. 


Hamburg hatte dabei noch Glück im Unglück, denn der amtierende Polizeisenator, der keineswegs ein Innensenator war mit Zuständigkeiten, wie wir sie heute kennen, dieser Helmut Schmidt, dem wir später die Ehrenbürgerwürde angetragen haben, hat beherzt Verantwortung übernommen, Anordnungen getroffen, Dienststellen und Verwaltungseinheiten eingesetzt, für die er eigentlich gar nicht zuständig war. 


Das hätte schiefgehen können, aber Helmut Schmidt war kein Rückversicherer, ging das Wagnis ein und war damit erfolgreich. 


Helmut Schmidt selbst sagte kurz darauf in einer Sondersitzung der Bürgerschaft:
Die Katastrophe, die wir erlebt haben, hat ein Ausmaß erreicht, wie wir es seit dem Hamburger Brand nur im Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Die Sturmflut … hat […] alle jemals in Hamburg gemessenen Sturmfluten übertroffen. 


Unser Ehrenbürger wird zurecht gelobt, geehrt, bewundert für seinen damaligen Einsatz. Aber die Sache ist ihm nicht allein gelungen. 


Es waren auch nicht nur hauptberufliche Polizisten und hauptberufliche und freiberufliche Feuerwehrleute oder die herbeigerufenen Soldaten der Bundeswehr und anderer NATO-Truppen. 
Dass so viele Menschen – 40.000 Personen – denn doch am Ende gerettet wurden, das ist in Wahrheit dem beherzten Zupacken tausender Freiwilliger zu verdanken.


Sie retteten Nachbarn mit selbst gebauten Flößen oder alten Pontons, kümmerten sich um unterkühlte Kinder, kochten einfach Tee oder Suppe für die, die die Nacht durchnässt bei Minusgraben auf den Dächern zugebracht hatten. 


Vor allem aber schaufelten sie Sand, füllten Sandsäcke und schichteten sie auf den zu niedrigen Deichen auf, stundenlang, unermüdlich, und an vielen Stellen gelang es so doch noch, Überflutungen zu verhindern. 


Diesen Menschen, die entweder ehrenamtlich mit dem Roten Kreuz, den Freiwilligen Feuerwehren, dem Technischen Hilfswerk, der Deichwacht, den karitativen Organisationen und anderen halfen oder sich ganz einfach unorganisiert zusammenfanden, diesen Menschen, meine Damen und Herren, gebührt besonderer Dank.


Meine Damen und Herren, seit 1962 ist viel in puncto Deichsicherheit geschehen.
Selbstverständlich hat die Bürgerschaft ohne weiteres die Mittel bereitgestellt, Hamburgs Deiche sind heute 2,5 Meter höher als noch vor 60 Jahren, der Ernstfall wird regelmäßig geprobt, die Anlagen für den Hochwasserschutz werden regelmäßig geprüft und angepasst.


Dennoch dürfen die Gefahren niemals unterschätzt werden. 


So mahnt uns das Hochwasser im Ahrtal vom vergangenen Juli zur Vorsicht. In Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen starben allein an der Ahr mindestens 133 Menschen. Hunderte wurden verletzt, weite Teile des Tals verwüstet. Diese Katastrophe hat leider gezeigt, dass selbst etablierte Abläufe und moderne Warnsysteme regelmäßig auf den Prüfstand gehören. 


Und auch hier: Wenn an einer solchen Katastrophe überhaupt etwas Positives zu finden ist, ist es auch hier das beeindruckende Engagement ehrenamtlicher freiwilliger Helferinnen und Helfer. Das könnte staatliche Daseinsvorsorge, so gut sie auch sein möge, niemals ersetzen.


„Jeder und jede, der anpackt, im Großen wie im Kleinen, der bringt die Kraft der Demokratie zum Leuchten.“ 


Dieser Satz unseres Bundespräsidenten Steinmeier vom Wochenende beschreibt es trefflich, meine Damen und Herren, nicht Gekrittel und Gemecker bringt uns voran, sondern beherztes Zupacken, wo es nötig ist.


Wir haben über die Jahrzehnte gelernt, damit umzugehen. dass ab und zu ein Orkan bläst, dass es waagerecht regnet und dass tieferliegende Teile unserer Stadt manchmal unter Wasser geraten. 
Aber uns sollte bewusst sein: Klimawandel, Naturkatastrophen und steigende Wasserstände hören nicht von selbst auf.


Wir als gewählte Parlamentarier:innen tragen Verantwortung dafür, dass dieser menschengemachten Zerstörung Einhalt geboten wird. 


Wir müssen JETZT handeln, nicht irgendwann, und es muss uns endlich gelingen, diese Haltung auch bei den Menschen zu verankern, die bis heute so tun, als sei der Schutz von Umwelt und Natur nur ‚Spinnerei‘. 


Gesellschaft und Politik müssen zusammenstehen, wenn es um existenzielle Fragen geht, daran müssen wir alle arbeiten, hier im Parlament und draußen in der Stadt – für ein sicheres Hamburg und für eine sichere Zukunft.


Datum: Mittwoch, 16. Februar 2022, 13.30 Uhr
Ort: 
Rathaus, Großer Festsaal