Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit anlässlich des Jubiläums 75 Jahre Hamburgische Bürgerschaft

Es gilt das gesprochene Wort!



Sehr geehrte Damen und Herren,

der 30. Oktober 1946 ist ein Mittwoch wie heute, es gibt ein paar kleine Schauer, und der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann, damals Mitglied der CDU und einer deren Gründer, wird zum Oberbürgermeister der Stadt Essen gewählt.

 

Der Rowohlt-Verlag kündigt an, Romane auf Zeitungspapier in einer Auflage von jeweils 100.000 Exemplaren zum Preis von 50 Pfennigen herausgeben zu wollen.

 

Und in Hamburg und Bremen treten die neugewählten Bürgerschaften zu ihren konstituierenden Sitzungen zusammen.

 

Ein halbes Jahr vorher bereits hatte sich hier im Rathaus ein Parlament versammelt. Dessen Mitglieder hatte die britische Besatzung ernannt.

Aber den Hamburgerinnen und Hamburgern reichte das nicht – mit großen Demonstrationen forderten sie freie, gleiche und allgemeine Wahlen.

Im Herbst war es so weit – und fast 80 Prozent der Wahlberechtigten stimmten ab und wählten die erste freie Bürgerschaft nach dem Ende der Nazidiktatur.

 

Und dann dieser Mittwoch, der 30. Oktober 1946, fast auf den Tag genau vor 75 Jahren:

Erstmals wieder trafen sich 110 frei gewählte Abgeordnete im Plenarsaal, um – nach schmerzhaften zwölf Jahren NS-Diktatur – den Neubeginn und den Wiederaufbau mitzugestalten.

Die Aufgabe, die vor den 93 Männern und immerhin 17 Frauen im Parlament lag, war enorm.

 

Hamburg war eine einzige Trümmerlandschaft, im wahrsten Sinne des Wortes. Fast zwei Drittel aller Wohnungen waren zerstört, es türmte sich eine Menge an Schutt von 43 Millionen Kubikmetern.

 

Zusätzlich kamen damals Tag für Tag 6.000 Flüchtlinge in Hamburg an.

Die Menschen fanden irgendwie Unterschlupf, in Ruinen, Kellern, alten Eisenbahn- und Straßenbahn-Waggons und in den Wellblech-Nissenhütten, die bis in die 60er-Jahre noch überall in der Stadt standen.

Die katastrophale Versorgung mit Lebensmitteln ließ viele Menschen unter Hunger leiden.

Wurden anfangs noch maximal 1.200 Kalorien pro Tag auf Karten zugeteilt, waren es später nur noch knapp 800.

Bürgermeister Max Brauer stellte seinerzeit fest, dass sich damit weder eine Stadt noch eine demokratische Ordnung aufbauen lasse.

 

Und allen war bewusst, dass der Winter vor der Tür stand – es wurde einer der kältesten seit vielen Jahren.

Was die Abgeordneten – unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit – damals bei ihrem Amtsantritt verband, war das Ziel, unsere Freie und Hansestadt in eine bessere Zukunft zu steuern.

Sie taten dies mit großem Respekt und mit Demut vor dieser Herausforderung.

Und mit Eigenschaften, die Elisabeth Ostermeier, mit 33 Jahren die damals zweitjüngste Abgeordnete (der SPD-Fraktion), wie folgt beschrieb:

„Nicht ohne Befangenheit, aber auch mit großen Erwartungen, mit einem gewissen Stolz, mit Wissbegierde und mit sehr großer Arbeitsbereitschaft.“

 

Meine Damen und Herren,

heute wissen wir, welche beeindruckenden Leistungen die Abgeordneten der Nachkriegsgenerationen erbracht haben.

Sie haben Hamburg eine Verfassung gegeben, die uns bis heute als Leitbild dient und Grundlage unseres Handelns ist.

Sie haben demokratische Strukturen geschaffen und den Bürgerinnen und Bürgern vorgelebt, sich für Pluralismus einzusetzen – stets mit einem Ziel: unsere Heimatstadt zu einer modernen Metropole zu gestalten.

 

Dabei – und darauf hat unser Ehrenbürger Uwe Seeler beim 70. Geburtstag der Bürgerschaft hingewiesen – fanden sie überall tatkräftige Unterstützung.

Der Wiederaufbau unserer Stadt ist eine Gemeinschaftsleistung ALLER Hamburgerinnen und Hamburger, und darauf können wir mit Recht stolz sein!

***

Wir Politikerinnen und Politiker haben nicht immer den besten Ruf – aber das überragende Engagement von damals ist als treibende Kraft bis heute geblieben.

Die Hamburgerinnen und Hamburger können sich auf uns Abgeordnete verlassen, wenn es darum geht, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern, auf Missstände nicht nur hinzuweisen, sondern alles Menschenmögliche zu tun, sie so gut es geht zu beheben.

 

Insgesamt 1.251 Abgeordnete haben seit jenem 30. Oktober 1946 hier in der Bürgerschaft gearbeitet und dafür im Durchschnitt siebeneinhalb Jahre lang ihre Freizeit geopfert.

In mehr als 1.900 Plenarsitzungen wurden fast 2.500 Gesetze beschlossen oder geändert.

Auf mehr als 100.000 Protokollseiten ist nachzulesen, wie und mit welchen Argumenten die Abgeordneten diskutierten und Beschlüsse fassten.

 

Und wenn Hamburg heute, wie viele sagen, die schönste Stadt der Welt ist, dann ist das auch und zu einem erheblichen Teil das Ergebnis dieser beharrlichen und unermüdlichen Arbeit.

 

Und die darf nicht aufhören, denn das Erreichte und das Bewährte sind ja überhaupt keine Selbstverständlichkeit.

Auf der ganzen Welt gibt es unter über 200 Staaten nur noch rund 30, die das Label Demokratie überhaupt verdienen. Tendenz abnehmend.

Eine Erfolgsgeschichte wird unsere Demokratie nur bleiben, wenn wir sie verteidigen: gegen Gleichgültigkeit, Zynismus, Hoffnungslosigkeit und partikulares Denken. Und wenn wir immer weiter werben, für unsere Parteien und unsere Parlamente.

 

Liebe Kolleg:innen,

es war und ist eine hohe Ehre und natürlich mit erheblichem Vertrauensvorschuss behaftet, wenn man von den Wählerinnen und Wählern in ein Parlament entsandt wird.

 

Heute sind wir hier im Plenum:

123 Abgeordnete, die ganz unterschiedliche Lebens- und Berufsbiografien mitbringen. Allein in dieser Wahlperiode sind fast die Hälfte von uns neu hinzugekommen.

Unser Parlament ist „jung“ geblieben und weiblicher geworden.

In unseren Reihen gibt es heute viele, deren Wiege nicht in Hamburg stand oder deren Eltern zugewandert sind.

Diese Vielfalt ist ein großer Gewinn für unser „Tor zur Welt“, der Wandel öffnet Chancen und Freiräume für die Gestaltung von Politik - und ist ohnehin das sichtbarste Zeichen von Demokratie!

 

***

Wir sind die Vertreter:innen aller Hamburgerinnen und Hamburger, übrigens auch derer, die uns nicht gewählt haben.

So wichtig einzelne Interessen und die Interessen Einzelner sein mögen, so dürfen wir deshalb niemals das große Ganze aus dem Blick verlieren.

Den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung zu geben, gesellschaftliche Diskussionen anzustoßen und sie auch dann weiter auszuhalten, wenn die Luft mal brennt:

das sind Aufgaben, denen wir uns immer wieder und vielleicht auch immer stärker stellen müssen.

Schöne Antworten können wir alle geben. Wir müssen aber Lösungen finden, sie hier im Parlament und mit der Öffentlichkeit diskutieren.

Heute leben wir in einer zunehmend komplexen politischen Wirklichkeit, in der sich über die Grenzen unserer Stadt und unserer Nation Einzel- oder Gruppeninteressen oft wie in Stein gemeißelt gegenüberstehen.

 

Wenn immer mehr die Bereitschaft sinkt, unterschiedliche Argumente auszuhalten oder überhaupt Widerspruch zu dulden, dann wird eines klar: wir sind hier im Parlament umso mehr gefordert.

Meinungen dürfen und müssen von uns frei geäußert werden, sie sollten aber fair und – bei allem Engagement – nicht persönlich verletzend vorgetragen werden.

Wenn wir verlangen, dass wir als Politiker nicht beleidigt, verhasst, gehetzt, beschimpft werden – worauf wir ganz zu Recht bestehen – dann gilt das für uns untereinander genauso, und übrigens hier im Saal ebenso wie draußen.

Wir sind Vorbilder für den demokratischen Diskurs und sollten – bei aller Unterschiedlichkeit von Meinungen – diese Rolle ernst nehmen und dafür werben.

 

Meine Damen und Herren,

die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung gegenüber der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung.

 

Nach dieser Sentenz des von den Nazis nur vier Wochen vor Kriegsende umgebrachten Dietrich Bonhoeffer haben sich die Abgeordneten der ersten frei gewählten Bürgerschaft vor 75 Jahren an die Arbeit gemacht.

Und: mit einer guten Portion Optimismus. Der ist vielleicht keine politische Kategorie, kann aber enorm hilfreich sein.

 

Was bedeutet das konkret für uns?

 

Die Antwort ist einfach, glaube ich:

Wir brauchen weiterhin viel Mut. Zur Gestaltung, und zum Engagement.

 

Oder, liebe Kolleginnen und Kollegen,

mit Blick auf die Säulen hinter mir:

Die Weisheit,                                  

die Gerechtigkeit,

die Stärke 

der Fleiß

mögen unsere Wegbegleiter auch in den nächsten 75 Jahren sein.

 

Herzlichen Dank.


Datum: Mittwoch, 3. November 2021, 13.30 Uhr
Ort: 
Rathaus, Großer Festsaal