Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zum Volkstrauertag am Internationalen Mahnmal in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
verehrte Vertreterinnen und Vertreter des Konsularischen Korps,
der Kirchen und Religionsgemeinschaften, sowie der Parlamente,
liebe Frau Koop, lieber Herr Romey, Dr. von Wrochem und Professor Garbe,
sehr geehrte Damen und Herren!


Im Namen der Freien und Hansestadt Hamburg begrüße ich Sie zum heutigen Gedenken am Volkstrauertag.
Auch wenn uns die Corona-Pandemie auch für diesen Tag viele, notwendige Einschränkungen auferlegt und wir ihn anders begehen werden, so wollen wir deutlich machen: unsere Erinnerung, unsere Mahnung muss und wird stets ihren Platz behalten.


Deswegen versammeln wir uns hier am Internationalen Mahnmal der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Vor wenigen Jahren nur eine Station am Volkstrauertag, inzwischen fester Bestandteil des Gedenkens der Stadt.


Wir stehen hier um die Inschrift auf der Stele Jahr um Jahr zu erneuern: „Euer Leiden, euer Kampf und euer Tod sollen nicht vergebens sein“


Mehr als 100.000 Häftlinge aus ganz Europa waren zwischen 1938 und 1945 hier im Hauptlager und in den Außenlagern überall in Hamburg und der näheren Umgebung inhaftiert.


Die Hälfte von ihnen kamen in diesem Zeitraum ums Leben, wie man es manchmal beschönigend heißt.


Tatsächlich wurden sie ermordet – manche durch direkte Gewalt, andere, indem man sie verhungern ließ, ihre Krankheiten nicht behandelte oder ihnen ein unmenschliches und letztlich tödliches Arbeitspensum abverlangte.


Das Konzentrationslager Neuengamme findet hier einen traurigen Höhepunkt in den Geschichtsbüchern über die Rolle der Hansestadt in der NS-Zeit.


Die meisten von Ihnen, meine Damen und Herren, werden die Worte von Max Mannheimer kennen.


Er hatte während der Shoah seine Familie und seine Freunde verloren, selbst schwerste Misshandlungen knapp überlebt.


Er sagte, an uns Nachgeborene gerichtet: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon."


Wir wollen nicht vergessen, welches Leid wir Deutschen mit zwei Weltkriegen über unzählige Länder gebracht haben.
Wir gedenken derer, die staatlichem Terror und staatlicher Willkür zum Opfer gefallen sind, den geschundenen, gequälten und ermordeten Menschen in Deutschland, in Europa und auf der ganzen Welt.


Umso wichtiger ist es also, die Erinnerungsarbeit mit der gleichen Intensität fortzuführen, wie sie die Gedenkstätte und seit kurzem die übergeordnete Stiftung seit vielen Jahren leisten.

 

Dafür danke ich allen Beteiligten sehr.
Meine Damen, meine Herren,


Der Volkstrauertag erhält in uns allen die Verpflichtung, behutsam mit der Erinnerung umzugehen, aber gleichzeitig verantwortungsvoll in unsere Gegenwart und nach vorne zu blicken.


Wenn wir das kritisch und ehrlich tun, dann müssen wir feststellen, dass wir in einer in Teilen tief verrohten Gesellschaft leben, in der die Grundwerte unserer Verfassung bisweilen verachtet und allenfalls noch müde belächelt werden.


Menschenwürde, Respekt, solidarisches Miteinander – das sind manchen nur noch verstaubte Begriffe. 


Meine Damen und Herren,


wir leben in einem Land, in dem wirre und gleichzeitig haltlose Verschwörungstheorien im Mantel der „Meinung“ daherkommen können,


„Gutmensch“ als verächtlichendes Schimpfwort gilt, ganz so, als gäbe es nicht schon genügend schlechte Menschen auf der Welt.


Die gibt es nämlich, und ich bin sicher: Hinter so manchem Facebook-Post, hinter so manchem Tweet, so manchem Kommentar lauert, manchmal ja auch ganz ungeschminkt, reinster Faschismus.


Das mag ein harrsches und hässliches Wort sein. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ – diese beschönigende und scheinbar beruhigende Bemerkung kennen wir alle.


Aber dazu ist zumindest zweierlei zu sagen:


Erstens, es ist Faschismus, wenn man neuere Erkenntnisse leugnet und ignoriert, die Werte der Menschlichkeit und der Aufklärung ablehnt.


Es ist Faschismus, wenn man Meinungsvielfalt und Pluralismus ablehnt und versucht, seine Komfortzone zu schützen, indem man vermeintliche Eindringlinge ablehnt.


Es ist ein Kennzeichen von Faschismus, wenn einem mangels eigener sozialer Integrität nur noch der Stolz auf die eigene Nation bleibt.


Es ist ein Zeichen von Faschismus, wenn man anderen Gruppen angebliche Privilegien missgönnt und daraus eine vermeintliche eigene Benachteiligung konstruiert.


Nachrichten und Zeitungen werden zur „Lügenpresse“, und die Massenhysterie des Nürnberger Reichsparteitagsgeschehens wird quasi in die sogenannten sozialen Medien des Internets verlagert. Hier finden wir, ganz ungeschminkt und hässlich, die Alltagsfratze des Faschismus - jeden Tag.


Und weil dies alles so ist, meine sehr geehrten Damen und Herren, weil dies alles so ist, hier meine zweite Bemerkung zum obigen Spruch:


Nein, das wird man nicht „wohl noch“ sagen dürfen.


Das darf man nicht sagen, nicht einmal denken, und in einem so vorbelasteten Land wie dem unseren schon gar nicht!


Extremistische Propaganda und gewaltverherrlichende Rhetorik sind nämlich keine Meinung!


Heute spricht man vom stochastischen Terrorismus.


Allein durch das Verbreiten von Hassreden und Verschwörungstheorien, was heute „dank“ Internet einfacher ist denn jemals zuvor, wird ein Klima erzeugt, in dem am Ende ein Einzelner sich aufgerufen fühlt, zur Tat zu schreiten und aus Worten Taten zu machen.


Der zufällige Einzelne gewissermaßen, nach dem Motto: irgendeiner wird schon anbeißen.


Dass dies dann auch tatsächlich geschieht, haben wir immer wieder zur Kenntnis nehmen müssen:


Bei dem Anschlag von Hanau oder dem auf die Synagoge in Halle, oder auch beim Überfall auf einen Synagogenbesucher in Hamburg.


Das sind keine Einzeltäter. Sie haben sich das nämlich nicht selbst ausgedacht.


Das fortwährende Gerede und Geschreibe, der unterschwellige und der offene Hass, die dezente Benachteiligung und die ganz offen zu Tage tretende Gewalt – das ist Nahrung für eine andere Form der Gesellschaft.


Erich Kästner hat einmal gesagt, man hätte spätestens 1928 eingreifen müssen, danach sei es zu spät gewesen.


Das flächendeckend ausgebreitete Gift des Faschismus hatte den Boden bereitet für das Grauen, das daraus entstand.


Lassen wir es nicht wieder so weit kommen!


Meine Damen und Herren,


wer die Augen und Ohren öffnet, sieht und hört Verrohung in unserer Gesellschaft täglich und allerorten. Und umso wichtiger ist es, sich stets und ständig der Aufgabe zu stellen, dagegen vorzugehen.


Wie sagte Mannheimer: „Wir sind nicht verantwortlich für das, was war, aber dafür, dass es nicht wieder geschieht!“


Stellen wir uns dieser Aufgabe!


Das ist nicht immer leicht. Aber wir dürfen niemals die grauenhaften Geschehnisse der Weltkriege, der nationalsozialistischen Diktatur und des Terrorismus aus unserer Erinnerung verbannen.


Auch wenn wir nicht verantwortlich für die Verbrechen jener Zeit sind, so tragen wir dennoch die Verantwortung dafür, wie wir heute damit umgehen.


Das tun wir als Freie und Hansestadt Hamburg, als Bürgerschaft und Senat.


Das leistet am Volkstrauertag vor allem der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge bis zum heutigen Tage. Durch seine Arbeit erweist er der Vergangenheit ein mahnendes Gedenken, er gibt Auskunft über das Schicksal der Soldaten und spendet so bis in die heutige Zeit Trost.


Und zugleich macht der Volksbund Hoffnung auf eine neue, friedliche Zukunft und engagiert sich das ganze Jahr über im besten Sinne für unsere Demokratie.


Dafür möchte ich mich im Namen unserer Heimatstadt von Herzen bedanken!


Viele von uns sind Teil einer Generation, die eben keinen Krieg, keinen Hunger, keine Not erfahren hat – ein großes Glück.


Dass wir dennoch nicht wegsehen im Angesicht von Armut und Terror in vielen Regionen dieser Welt,


das sind wir den Millionen von Menschen schuldig, die in den beiden Weltkriegen und vielen weiteren Kriegen, Konflikten und Terroranschlägen bis heute, auch hier in Deutschland, ermordet wurden oder Leid erfahren haben.


Dass wir ins Gespräch gehen, und dass wir nicht nachlassen - im Gedenken und im Erinnern.


Vielen Dank.


Datum: Sonntag, 15. November 2020, 10.00 Uhr
Ort: Internationales Mahnmal in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme