Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit bei der zentralen Kranzniederlegung zum Volkstrauertag

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Frau Bürgermeisterin,
ich begrüße die Vertreterinnen und Vertreter des Konsularischen Korps,
der Kirchen und Religionsgemeinschaften
sowie der Parlamente.
Liebe Frau Koop, lieber Herr Romey,
sehr geehrte Damen und Herren!


Im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft möchte ich mit Ihnen gemeinsam am Volkstrauertag der Opfer des faschistischen Terrors und der Toten der beiden Weltkriege gedenken – erstmals hier, an der Gedenkstätte Ochsenzoll.


Das Erinnern ist die Fähigkeit, Vergangenes durch das Gedächtnis in der Vorstellung wieder zu beleben. Wir rufen uns also heute grauenhaftes Geschehen vor Augen, damit es sich auch weiterhin einbrennt in unser kollektives Gedächtnis.


Das ist inzwischen seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil unserer Kultur in der Freien und Hansestadt. Natürlich besteht die Gefahr, dass Gendenkveranstaltungen umso mehr in Ritualen erstarren, je größer die zeitliche Entfernung wird. Im schlimmsten Fall – das hat Pastor Ulrich Hentschel von der Nordkirche gestern in einem Zeitungsbeitrag ausführlich dargelegt – dienen Gedenkveranstaltungen womöglich nur noch dem Selbstzweck.


Was diese Kritik außer Acht lässt, ist aber die Entwicklung, die dieses Datum genommen hat, jedenfalls in Hamburg, oder lassen Sie mich sagen: die wir ihm gemeinsam gegeben haben. Und dazu zählt auch, dass wir heute genau hier stehen.


Meine Damen und Herren,
für die Bürgerschaft ist es wichtig, immer wieder die Frage zu stellen, was wir leisten können, um die Bedeutung des Volkstrauertages für unser Heute und für das entschiedene Nie wieder! zu verdeutlichen. Pastor Hentschel – stellvertretend – beklagt eine – wie er es nennt – gleichmacherische Aneinanderreihung von Tätern und Opfern. Ich glaube, das wird der Sache nicht gerecht, jedenfalls nicht hier in Hamburg.


Ja, unser Gedenken gilt allen, die als ermordete Opfer, als im Bombenhagel Begrabene oder als in fernen Landen an irgendeiner Front, an die sie befohlen wurden, Gefallene.


Aber wir vermischen da nichts, wir stellen uns der Zerrissenheit. Im Gegenteil, gerade durch die unterschiedlichen Gedenkorte versuchen wir, die unfassbare Größe der faschistischen Verbrechen deutlich zu machen.


Die Vielfalt der Verbrechen zeigt sich an vielen Stellen in der Stadt, zu denen zum Beispiel das Mahnmal St. Nikolai oder seit zwei Jahren auch der Hannoversche Bahnhof gehören.


Und vielleicht werden wir in absehbarer Zeit auch vor einer wieder aufgebauten Synagoge am Bornplatz unsere Trauer zeigen können. In diesem Jahr findet die zentrale Kranzniederlegung erstmals hier in Langenhorn statt; eine gemeinsame Entscheidung, über die ich sehr froh bin.


Denn, meine Damen und Herren,
zu der grausamen Vernichtungsmaschinerie der Nazis zählte auch das Euthanasieprogramm. Was wie eine Umschreibung für einen „leichten und schönen Tod“ klingen sollte, war nichts anderes als die Ermordung von rund 200.000 Menschen, die mit einer Behinderung lebten oder psychisch erkrankt waren.


Auch hier in Hamburg sind mehrere Tausend Frauen, Männer und Kinder Opfer des verbrecherischen Programms geworden. Sie wurden entweder in unserer Stadt ermordet oder in Tötungsanstalten zum Beispiel nach Brandenburg verschickt.


Viele weitere Opfer wurden zwangssterilisiert oder für Experimente missbraucht. Hier im ehemaligen Krankenhaus Langenhorn, in der Kinderklinik Rothenburgsort, den Alsterdorfer Anstalten oder den Versorgungsheimen der Hamburger Wohlfahrtsbehörde wurden die Verbrechen begangen oder vorbereitet.


Meine Damen und Herren,
die Hamburgische Bürgerschaft hat sich im Rahmen ihrer jährlichen Gedenkveranstaltungen mehrfach mit dem Thema der sogenannten Euthanasie befasst. Die bewegenden Schicksale der Kinder und Erwachsenen wurden von zwei szenischen Lesungen des Künstlers Michael Batz und einer Rathaus-Ausstellung gemeinsam mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme aufgegriffen – und damit erstmals so umfassend öffentlich behandelt. 


Die „Reichsausschusskinder“ haben inzwischen nicht nur eine umfangreiche Aufarbeitung zum Beispiel durch Andreas Babel und Hildegard Thevs erfahren, sie haben auch zwei Schulklassen angeregt, das Thema auf die Bühne zu bringen.


Eindringlich, eindrücklich. Und ich will gern einen Schüler aus der Stadtteilschule Bergedorf zitieren, der vor zwei Wochen vor dem Kinderkrankenhaus Rothenburgsort sagte: Dies sei ihr kleiner Beitrag, dass sich Geschichte nicht wiederholt. „Wir sind die neuen Zeitzeugen“, sagten die Schülerinnen und Schüler.


Meine Damen und Herren,
wenn wir das erreichen, dann mag das ältere Generationen, die sich lieber im Schweigen geübt haben, beschämen. Aber ich persönlich denke in solchen Momenten: Hoffnungslos ist das hier lange nicht!


Meine Damen und Herren,
für viele von uns ist bis heute kaum vorstellbar, wie Mediziner, die ihr Leben der Heilung und Pflege von Menschen verschrieben haben, ihr Wissen zum kaltblütigen Töten einsetzen konnten. Menschen, die als Ärzte und Ärztinnen eigentlich diejenigen hätten sein sollen, die sich schützend vor das Leben stellen.


Damit das funktionierte, bedurfte es eines klar strukturierten Systems, in dem Befehle „von oben nach unten“ weitergegeben wurden. Aber es bedurfte auch der Menschen, die diese Befehle penibel genau umsetzten, das sind zum Beispiel:  

  • der Verwaltungsangestellte, der in den Alsterdorfer Anstalten Krankenakten sichtet und die betroffenen Patienten für die „Tötungsaktion T4“ meldet; 
  • die Krankenschwester, die nur allzu gründlich darüber wacht, dass die Patienten verhungern; 
  • der Arzt im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, der das Beruhigungsmittel Luminal in tödlicher Dosierung anweist, Meldebögen nach Berlin ausfüllt;
  • oder die Assistenzärztin, die es schließlich den kleinen, hilflosen Patientinnen und Patienten verabreicht.


Und dann gab es noch den Verwaltungsangestellten, der eine menschenverachtende Kosten-Nutzenrechnung aufstellte. Zitat: „125 Mark sind die Ausgaben für ein gesundes deutsches Schulkind. Um wie viel Prozent teurer kommt dem deutschen Volk ein Geisteskranker oder Krüppel?“ Zitat Ende.


Und, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten: Da mutet es schon höchst alarmierend an, wenn vor einem Jahr Bundestagsabgeordnete einer bestimmten Partei im Parlament die Anzahl der Behinderten erfragten und im gleichen Atemzug wissen wollten, was das alles den Steuerzahler kostet und wieviel für Behinderte mit Migrationshintergrund aufgewendet werden muss.


Meine Damen und Herren,
vielleicht handelten all die Menschen damals, all die Täterinnen und Täter aus Gehorsam, manchmal sicherlich aus Angst vor Repressalien, aber umso häufiger aus Gleichmut oder – viel schlimmer – sogar aus tiefster Überzeugung.


Man muss das wissen, verehrte Gäste, um zu verstehen, warum so viele Jahrzehnte lang über die Euthanasie-Verbrechen geschwiegen wurde. Warum die meisten Ärzte, Pfleger, Krankenschwestern und Sachbearbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg unbehelligt weiterarbeiten durften.


Die Hamburger Gesundheitsbehörde und die Hamburger Ärztekammer stellten 1961 fest, dass die beteiligten Ärzte und Ärztinnen, dies ist ein Zitat: „unter den damaligen Umständen keine schweren sittlichen Verfehlungen“ begangen hätten. Im Übrigen hätten sie in ihrem Beruf „seit jener Zeit einwandfrei gearbeitet“. Zitat Ende.
Viele Mediziner setzten nach 1945 erfolgreich ihre berufliche Laufbahn in der Freien und Hansestadt fort und gingen als „ehrenwerte“ Mitglieder der hanseatischen Gesellschaft schließlich in den Ruhestand.


Während aber die meisten Täter und Beteiligten weiterhin Karriere machten und gutes Geld verdienten, während sie später volle Renten und Pensionen bezogen, kämpften die Opfer jahrzehntelang vergeblich um Anerkennung und Entschädigung. Das ist nicht wieder gut zu machen.


Meine sehr geehrten Damen und Herren,
das Leid, die Angst, die Schmerzen und die Morde im Faschismus dürfen und werden wir nicht vergessen.
Die Hamburgische Bürgerschaft und die zahlreichen anderen beteiligten Organisationen halten dieses Gedenken auch 74 Jahre nach der Befreiung wach.


Gemeinsam mit dem Senat, dem Volksbund, der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und dem  Arbeitsausschuss der Organisationen ehemals Verfolgter. 


Wir schließen in unsere Erinnerung am Volkstrauertag alle Opfer der beiden Weltkriege ein. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir in Deutschland und im größten Teil Europas eine Ära des Friedens und Wohlstands. Eine Gemeinschaft, die auf Werten basiert, die unser Zusammenleben definieren: Solidarität und Humanität eingebettet in parlamentarische Demokratien. 


Lassen Sie uns für die Gegenwart und Zukunft wachsam sein. Faschistische Populisten verbreiten europaweit völkischen Nationalismus. Zugleich versuchen sie bei uns, die Verbrechen der Nazis klein zu reden und die historische Verantwortung dafür zu leugnen, womöglich an Ideen anzuknüpfen. 


Diese Propaganda, dieser Hass müssen uns alle erschrecken – aber: sie dürfen unsere tolerante Gesellschaft nicht bedrohen. Schweigen gilt nicht!


Und übrigens gibt es ein Datum, an dem mindestens jeder einmal wieder seine Stimme abgeben kann gegen diese Tendenzen: Die Bürgerschaftswahlen am 23. Februar.


Meine Damen und Herren,
die Hamburgische Bürgerschaft stellt sich unnachgiebig gegen jede Form von Antisemitismus und Fremdenhass. Das ist der einzige Weg, auf dem Menschenrechte, Toleranz und Rechtssicherheit erhalten und durchgesetzt werden können. Das Motto aller Demokratinnen und Demokraten bleibt – übrigens an jedem Datum: „Nie wieder“!


Vielen Dank.


Datum: Sonntag, 17. November 2019, 12.00 Uhr
Ort: Gedenkstätte auf dem Gelände Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll, Langenhorner Chaussee 560