Gedenkworte der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zum 8. Mai, dem Tag der Befreiung

8. Mai – Tag der Befreiung (1945) und Tag der Verabschiedung des Grundgesetzes (1949)

 

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Damen und Herren,

 

ich möchte unsere heutige Sitzung am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, mit einem Zitat eröffnen:

 

„Ich sehe, wie die Welt allmählich in eine Wildnis verwandelt wird. Ich höre den nahenden Donner, der auch uns vernichten wird. Ich kann das Leiden von Millionen spüren.

Und dennoch glaube ich, wenn ich zum Himmel blicke, dass alles in Ordnung gehen und auch diese Grausamkeit ein Ende finden wird. Dass wieder Ruhe und Frieden einkehren werden.“

 

Anne Frank schrieb diese Zeilen 1944 in ihrem Versteck vor den Nazis in ihr Tagebuch – voller Verzweiflung, aber auch mit einer Spur von Hoffnung für eine andere, neue Zukunft.

 

Es sollte noch fast ein Jahr dauern, bis der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endlich sein Ende fand. In Hamburg hatten die Nazis schon fünf Tage früher vor der britischen Besatzungsmacht kapituliert.

 

Deutschland lag – auch moralisch – in Trümmern. An die Verantwortung für die Ermordung von Millionen von Menschen wollte zu diesem Zeitpunkt niemand denken. Die Männer und Frauen, die überlebt hatten, krempelten lieber die Ärmel hoch und bauten unsere Stadt Stein für Stein wieder auf.

 

Es brauchte noch vier weitere Jahre, bis der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949, also vor exakt 70 Jahren, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit großer Mehrheit verabschiedete. Ein demokratischer Aufbruch in die beste aller Richtungen.

 

Die Hamburgische Bürgerschaft stimmte dem Grundgesetz nach einer – wie es heißt – sehr lebhaften Debatte zu. Damit galt auch in der Hansestadt der Artikel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. In diesem ersten Satz steckt die Lehre aus der Nazi-Barbarei, in der eine Partei ihre menschenfeindlichen Ziele mit großer Beteiligung, unter Applaus und mit stiller Zustimmung brutal umsetzen konnte.

Nie wieder sollte es dazu kommen – nie wieder!

 

Nun ist unser Grundgesetz 70 Jahre alt, aber von Altersschwäche weit entfernt. Wir feiern zu Recht den Eckpfeiler unserer Demokratie, und es ist schon erstaunlich, wie es nach zwölf Jahren Faschismus gelang, ohne große Worte und mit vergleichsweise wenigen Sätzen das Fundament für eine funktionierende Demokratie zu formulieren, die heute noch Bestand hat.

Mit Artikel 20 des Grundgesetzes wird übrigens auch jede Form autoritärer Herrschaft beseitigt. Er legt fest, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und freie Wahlen bestimmen, wer in der Regierung und wer in der Opposition sitzt.


Unsere parlamentarische Demokratie besteht im Kern aus der Suche nach dem Kompromiss und trägt so seit sieben Jahrzehnten zum Zusammenhalt in unserem Land bei. Sie ermöglicht und garantiert uns, dass Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat ist. All dies gilt es weiterhin zu bewahren und zu schützen! Dafür gibt es freie und gerechte Wahlen.


Wenn wir am 26. Mai in Hamburg die Mitglieder der Bezirksversammlungen und die Abgeordneten für das Europäische Parlament wählen, entscheiden die Bürgerinnen und Bürger nicht nur, was vor ihrer Haustür passiert – sondern auch, welche Richtung Europa in den kommenden fünf Jahren nimmt.


Gerade mit Blick auf die europäische Geschichte erinnert uns der Europatag, der morgen am 9. Mai gefeiert wird, daran, wie verhängnisvoll Nationalismus und Rassismus in zwei Weltkriegen endeten. Die Europäische Union hat zerstrittene Nationen geeint, hat Grenzen beseitigt, hat gemeinsame Werte zum friedlichen Zusammenleben erschaffen. Das gilt es, gegen aufkommenden Nationalismus, gegen abnehmende Rechtsstaatlichkeit und die Verachtung Anderer zu verteidigen, für ein geeintes, freies Europa, das aus seiner Geschichte gelernt hat.

Darin liegt die eigentliche Bedeutung der Europawahlen am 26. Mai.

An diesem Datum kann jede Stimme viel bewirken.


Das lehrt uns auch das ermordete jüdische Mädchen Anne Frank mit Blick auf eine bessere, friedliche Welt:

Sie sagte: „Wie herrlich es ist, dass niemand eine Minute warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt langsam zu ändern“.


Vielen Dank!

  

Datum: Mittwoch, 8. Mai 2019, 13.30 Uhr
Ort: Plenarsaal, Rathaus