Ansprache des Ersten Vizepräsidenten der Hamburgischen Bürgerschaft Dietrich Wersich zur szenischen Lesung "Sog nit Kejnmol"

Szenische Lesung „Sog nit Kejnmol“

 

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Mitglieder des Konsularischen Korps,
verehrte Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften,
Präsidentinnen und Präsidenten der Hamburger Gerichte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Senat und Bürgerschaft,
verehrter, lieber Herr Batz,
meine sehr verehrten Damen und Herren,


als Erster Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft begrüße ich Sie zu unserer szenischen Lesung im Rathaus. 


Ich freue mich, dass Sie heute ins Rathaus gekommen sind, um gemeinsam diesen besonderen Tag im Großen Festsaal zu begehen.


Ich grüße Sie auch im Namen unserer Präsidentin, die an diesem Wochenende in St. Petersburg unser Landesparlament bei den offiziellen Gedenkveranstaltungen zur Leningrader Blockade vertritt.


Meine Damen und Herren,
am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das KZ Auschwitz-Birkenau. 51 Jahre später – 1996 – erklärte der damalige Bundespräsident Roman Herzog dieses Datum zum Gedenktag für die NS-Opfer.


Wir gedenken an diesem Tag der Millionen ermordeter Juden, der Sinti und Roma, der Kommunisten, der Sozialdemokraten, der Homosexuellen, der Christen und der Zeugen Jehovas, sowie der Euthanasieopfer. Wir erinnern an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und an die Kriegsgefangenen. Wir ehren heute auch all jene, die Widerstand gegen die Zerstörung von Freiheit und Menschlichkeit geleistet haben: Die Verfolgten und Bedrängten.


Roman Herzog hatte 1996 gesagt: „Wir erinnern nicht, um unser Entsetzen zu konservieren. Wir erinnern uns, um Lehren zu ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung gibt, damit aus der Erinnerung immer wieder lebendige Zukunft wird. 


Ja, natürlich freuen wir uns, heute in besseren Zeiten zu leben.
Aber dieser Tag ist uns eine Mahnung, neue Feindbilder, aufkeimenden Hass gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie Hass gegen alles Fremde zu bekämpfen.


Mit dieser Haltung wird die Bürgerschaft auch weiterhin Frieden, Menschenwürde, Toleranz und nicht zuletzt die Demokratie wahren und schützen.


Meine Damen und Herren,
wir alle kennen und schätzen das Format der szenischen Lesung von Michael Batz. Die heutige Aufführung ist etwas anders gestaltet, als Sie es sonst gewohnt sind. Denn der musikalische Anteil spielt diesmal eine ganz besondere Rolle.


Dabei fällt eine Frage vor allem auf: Kann es einen größeren Widerspruch geben – zwischen einer schönen Kunst wie der Musik und eiskaltem Mord?


Von den Zeitzeugen wissen wir: Genau auf diesen Widerspruch hatten es die KZ-Wächter in Dachau, Buchenwald oder Neuengamme angelegt. Sie ließen sich von todgeweihten Häftlingen musikalisch „unterhalten“. Sie nutzten Lieder oder Klassik-Werke, um Neuankömmlinge in die Irre zu führen oder sie zu foltern. 


Die Künstlerin Esther Bejarano, die wegen ihres musikalischen Talents in den Lagern von Auschwitz und Ravensbrück aufspielen musste, beschrieb diese Szenen einmal so:
„Die SS befahl uns, am Tor zu stehen und zu spielen, wenn neue Transporte ankamen in Zügen, in denen unzählige jüdische Menschen aus allen Teilen Europas saßen … und die alle vergast wurden. Die Menschen winkten uns zu, sie dachten sicher, wo die Musik spielt, kann es ja nicht so schlimm sein. Das war die Taktik der Nazis. Sie wollten, dass all die Menschen ohne Kampf in den Tod gehen. Wir aber wussten, wohin sie fuhren. Mit Tränen in den Augen spielten wir.“


Das war kein Einzelfall, meine Damen und Herren, sondern hatte Methode. Während Menschen in den Gaskammern ermordet wurden, bei Arbeitseinsätzen vor Entkräftung starben oder tot geprügelt wurden, mussten Häftlinge dazu aufspielen. Musik wurde bei Hinrichtungen eingesetzt oder auf dem Weg zur Zwangsarbeit.
So geschah es in vielen Konzentrationslagern, auch bei uns in Hamburg, in Neuengamme. Dort bestanden zwei Häftlingsorchester aus bis zu 80 Personen, die aus den unterschiedlichsten Ländern Europas stammten.
Als im Lager zum Beispiel das Fleckfieber ausbrach und strenge Quarantäne herrschte, entstand damals das Lied „Konzentrationäre“. Wir werden es gleich hören. Es endet mit den Worten „auch du wirst frei“.
Darüber hinaus komponierten und texteten einige der politischen Häftlinge in Neuengamme heimlich Kampflieder – aber nur unter größter Geheimhaltung. Denn das Singen und Spielen eigener Lieder, zumal politischer, wurde von der SS streng bestraft.


„Sog nit kejnmol“, der Titel der szenischen Lesung, beleuchtet die ambivalente Rolle der Musik und der Orchester in den NS-Vernichtungslagern. Denn Musik bedeutete auch geistigen Widerstand, machte Mut zum Durchhalten und stellte einen Bezug zum bisherigen Leben dar. So gesehen war Singen und Musizieren auch eine Art Überlebenshilfe.
Teilweise gelang es sogar, in Liedern versteckte Inhalte gegen die menschenverachtenden Zustände in den Lagern unterzubringen, wie im Dachau-Lied oder bei den „Moorsoldaten“. Musik in Lagern und vor allem auch in den Gettos – wie etwa in Theresienstadt – wahrte Erinnerungen an Identität und Würde. Sie stärkte den Zusammenhalt über sprachliche und kulturelle Barrieren hinweg.


Verehrte Gäste,
die szenische Lesung zeigt: Selbst Hass, Verfolgung, Folter und Mord haben die Selbstbehauptung und Kraft vieler Häftlinge nicht brechen können. Auch das werden wir in der szenischen Lesung hören und spüren.
Ich möchte mich deshalb auch im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft ganz herzlich bei Michael Batz für die Gestaltung bedanken.
Der Dank gilt ausdrücklich auch allen weiteren Akteuren, den Sprechern Anne Weber und Michael Prelle sowie den Musikerinnen und Musikern: Ordon Glowacki, Edgar Herzog, Johannes Huth, Jakob Neubauer, Kateryna Ostrovska und Igor Zeller.


Die szenischen Lesungen, meine Damen und Herren, sind inzwischen ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Erinnerungskultur, die vom Parlament aus großer Überzeugung unterstützt wird. Aus diesem Anlass hat die Bürgerschaft das Buch zu 20 Jahren szenische Lesungen herausgegeben. Sie erhalten es im Anschluss an die Veranstaltung am Ausgang.


Meine Damen und Herren,
der 27. Januar fordert uns alle auf, auch weiterhin Frieden, Menschenwürde, Toleranz und nicht zuletzt unsere Demokratie zu wahren und zu schützen.


Vielen Dank.

  

Datum: Sonntag, 27. Januar 2019, 17.00 Uhr
Ort: Rathaus, Großer Festsaal