Ansprache der Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft Carola Veit zu Ehren des 100. Geburtstages des Hamburger Ehrenbürgers Helmut Schmidt

Mittagsandacht zu Ehren des 100. Geburtstages des Hamburger Ehrenbürgers Helmut Schmidt


 

Es gilt das gesprochene Wort!

 

Sehr geehrter Hauptpastor Röder,

sehr geehrter Herr Herms,

verehrte Gemeinde,

liebe Michel-Besucherinnen und Besucher,

 

heute wäre unser Hamburger Ehrenbürger Helmut Heinrich Waldemar Schmidt 100 Jahre alt geworden.

 

Als Barmbeker Jung geboren, Lichtwark-Schüler, nach Militär und kurzer Kriegsgefangenschaft Student an der Universität Hamburg, langjähriger Bundestagsabgeordneter für die Wahlkreise Hamburg-Nord und -Bergedorf, Innensenator während der großen Sturmflut 1962, dann wieder in Bonn Fraktionsvorsitzender, Minister der Verteidigung, Finanzen und Wirtschaft und schließlich für acht Jahre Bundeskanzler:

 

Das waren die ersten zwei Drittel seines Lebens. Und danach dann die Zeit als Autor und Herausgeber, gefragter Ratgeber und Redner mit immer fundierten Ansichten, die bis zu seinem Tod in Hamburg-Langenhorn währte. Realistisch betrachtet ist es wohl vor allem dieses letzte Drittel seines Lebens, das das Helmut-Schmidt-Bild vieler Menschen prägt. Ein kluger Mann mit unbestreitbaren Verdiensten und Fähigkeiten, der schnörkellos sagt, wo es lang geht.

 

2013 ließ das STERN-Magazin die Deutschen fragen, welcher Bundeskanzler denn der bedeutendste der Nachkriegszeit gewesen sei. Helmut Schmidt belegte noch vor Konrad Adenauer und Willy Brandt den ersten Platz, danach kam Helmut Kohl.

 

Helmut Schmidt hat unserem Land und unserer Stadt gedient und geholfen wie nur wenige andere Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg. In dieser festlichen Umgebung hier im Michel zusammenzukommen verführt natürlich dazu,  einmal mehr seine großen  Verdienste aufzuzählen.

 

Aber das allein würde Deutschlands posthum am meisten geschätzten Bundeskanzler nicht gerecht werden, so ist er selbst nicht gewesen.


Schmidt hatte einmal gesagt: „Jeder Politiker liest gern über sich in der Zeitung, aber körperlich anwesend zu sein und selbst mitzuhören, wenn uns ein anderer lobt: Das ist schwieriger als Zeitunglesen.“ Als die Hamburgische Bürgerschaft fast auf den Geburts-Tag genau am 22. Dezember 1983 – ein Jahr nach dem Ende seiner Kanzlerschaft, Schmidt war 55 Jahre alt –  beschloss, Helmut Schmidt zum Ehrenbürger Hamburgs zu ernennen, schien es fast so, als wäre ihm das peinlich.

 

Eine derart uneingeschränkt positive Wertschätzung genoss Helmut Schmidt als aktiver Bundeskanzler nämlich nicht – bei weitem nicht, könnte man sagen.


Das lag sicherlich an den schwierigen Bedingungen, mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte:


- Eine tiefgreifende Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit, durch die der gelernte Volkswirt das Land manövrierte, indem er immer wieder Gespräche führte und verhandelte, weil er schon damals, vor immerhin 40 Jahren, die komplizierte und allgegenwärtige Vernetzung der Welt erkannte und versuchte, gegenzusteuern, zum Beispiel mit den von ihm maßgeblich ins Leben gerufenen G-7-Gesprächen.

- Der heftig tobende Kalte Krieg, bei dem die Großmächte bei ihren Planspielen stets Deutschland als Austragungsort für den großen Showdown im Blick hatten. Als der Ostblock seine Raketen modernisierte, verlangte Schmidt vehement die Anschaffung von Pershing-II-Raketen als Gegenmaßnahme der NATO. Er nannte das „Nachrüstung“, Gegner des Wettrüstens nannten es „Aufrüstung“ und demonstrierten zu Hunderttausenden dagegen; seine eigene Partei folgte ihm in dieser Frage nicht.

- Ein zunehmendes Umweltbewusstsein, das dazu führte, dass eine wachsende Zahl von Menschen ein Umdenken verlangte -
Schmidts Amtszeit ist dagegen auch mit dem Ausbau der Kernenergie verbunden und mit dem Glauben an stetiges Wachstum.

- Und schließlich die Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, damals von Links, die Stichworte heißen RAF, Baader/Meinhof, Mogadishu.
 
Wie furchtbar, zwischen dem Tod eines entführten Menschen und der Aufrechterhaltung des Rechtsstaats entscheiden zu müssen. Mit den Hinterbliebenen des damaligen Mordopfers, der Familie Schleyer, hat er sich später mehrfach ausgetauscht. Am Ende, 2013, erhielt er gar den Hanns-Martin-Schleyer-Preis.

 

In seinem Wirken vertrat Helmut Schmidt eine Gradlinigkeit und Kompetenz, die ihm über Parteigrenzen hinweg, national wie international viel Anerkennung brachte. Er hat sich zeitlebens bemüht, seine Meinung und erst recht seine Entscheidungen auf möglichst genauem Wissen zu gründen. Man muss die Dinge mindestens so weit verstehen, dass man gegebenenfalls interessengeleitete Zwecklügen der Experten durchschaut, war die Devise, und alles hängt mit allem zusammen.


Es ist kein Zufall, dass es eine ganze Reihe von Bildern Schmidts am Schachtisch gibt. „Kantianer“ haben ihn manche genannt, und bei Immanuel Kant kannte er sich gut aus. Ein Satz des Philosophen beschreibt das Arbeitsverständnis Helmut Schmidts vielleicht ganz gut, Kant hat geschrieben: „In einer Situation, die zwingend Handlung erfordert, ist beschränktes Wissen nicht unproblematisch.“

 

Helmut Schmidt wird gern als „Macher“ dargestellt, und das mochte er wohl auch.

„Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“ – dieser bekannte Schmidt-Satz, stets aus dem Zusammenhang gerissen und verkürzt, beschreibt das Bild schon ganz gut.


Aber – ich glaube es ist eben nur ein Bild, sozusagen eine vorgeschobene Inszenierung eines sehr klugen Mannes, der  gelernt hat, dass man zumindest nach außen stets den Eindruck erwecken muss, als wisse man ganz genau, wo es lang gehe, damit die Menschen einem vertrauen und folgen.

 

Mit sich selbst und wenigen vertrauten Ratgebern um die richtige Lösung ringen und diese dann öffentlich vertreten und durchsetzen – so kann man Schmidts Politik wohl eigentlich eher beschreiben.


Kein „Gewurschtel“.


Jedes seiner Ämter führte er mit Klugheit, mit preußischer Disziplin, unaufgeregt, mit klarem Ziel vor Augen, eine Aufgabe zum Erfolg zu führen - und häufig auch mit Mütze!

 

Und natürlich folgte alles einem Plan, einer roten Linie, auch wenn er das Wort Visionen vielleicht nicht mochte.

 

Doch, Helmut Schmidt hat durchaus und selbstverständlich Ziele gehabt, die erreicht werden sollten, große Leitlinien: Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Demokratie und ein zumindest bescheidener Wohlstand für Alle. Aber er war viel zu intelligent und viel zu vertraut mit dem Denken in vernetzten Strukturen, als dass er diese Ziele wie eine Monstranz vor sich her getragen hätte.


Ein Beispiel dafür: Mitte der 1950er Jahre hat Helmut Schmidt an der Seite von Max Brauer und anderen vehement und erfolgreich gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr gekämpft. Später war, als Bundeskanzler, vertrat er die Nachrüstung, und atomare Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden.


Widersprüchlich?


Nein, da wird in Wahrheit die Vision vom Frieden ganz deutlich. Zuerst der Gedanke, ohne Waffen gäbe es keine Kriege. Dann die Erkenntnis, dass sich die anderen Staaten anders orientieren; dann muss man wohl Abschreckung und Wettrüsten mitmachen, um den Frieden zu schützen. 


Helmut Schmidt war ein außenpolitischer Realist – ein Mann seiner Zeit, der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs, für den die Stabilität zwischen den Blöcken zur Überlebensbedingung wurde.


Allerdings:

Die größte außenpolitische Herausforderung und auch Leistung des Bundeskanzlers Helmut Schmidt lag nicht in der Sicherheitspolitik, sondern in der Finanz und in der Energiepolitik. Unter ihm agierte Deutschland das erste Mal nach dem Krieg in einer globalen Krise gleichberechtigt mit den anderen Großmächten.


Dass die wichtigsten westlichen Industrieländer nach der Idee von Schmidt und Giscard d‘Estaing die G7 initiierten, war völlig etwas völlig Neues. Der Anspruch, zu reden, sich auszutauschen und den Ausgleich zu suchen, war immer der wichtigste für Helmut Schmidt. Europa, dieser Kontinent, in dem jahrhundertelang sinnlose Kriege geführt wurden, lag ihm dabei besonders am Herzen.


Die Vision des einigen Europas, wenn Sie so wollen.


Eines Europas, über dessen kleinkarierte und hyperbürokratische Regeln man sich immer wieder lustig machen konnte, das aber zugleich der Garant für Frieden, Freiheit und Wohlergehen war und ist.


Fast 30 Jahre, nachdem er aus dem Amt schied, hat Helmut Schmidt das 2011 bei einer Rede auf dem Bundesparteitag der SPD noch einmal zusammengefasst, er hat gesagt:  „Wenn heute der größte Teil Europas sich der Menschenrechte und des Friedens erfreut, dann hatten wir uns das weder 1918 noch 1933 noch 1945 vorstellen können. Lasst uns deshalb dafür arbeiten und kämpfen, dass die historisch einmalige Europäische Union aus ihrer gegenwärtigen Schwäche standfest und selbstbewusst hervorgeht!"

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

diese Worte sind jeder Wiederholung wert. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Situation in Europa und vor allem in Deutschland 70 Jahre lang stetig verbessert.


Nie zuvor ging es den Menschen, die in Deutschland leben, über einen so langen Zeitraum so gut. Über 70 Jahre kein Krieg, keine Hungersnot, stattdessen Wachstum und bei manchen schneller, bei anderen langsamer wachsender Wohlstand. Frieden, Bildung, Gesundheitsvorsorge, genug zu essen und ein Dach über dem Kopf: Das ist weitaus mehr, als die Generationen vor uns hatten. Organisiert haben dies Politiker wie Helmut Schmidt, und dafür sind wir ihnen auch heute noch dankbar.

 

Das alles bliebe zufälliges Stückwerk ohne das große Werk der Europäischen Union. Hier werden die Konflikte ausgeräumt und gemeinsam für Europa und das, was die europäischen Staaten verbindet, Flagge gezeigt.

 

Weil die europäischen Gemeinschaften seit mehr als sechs Jahrzehnten die Garantin für unsere Sicherheit, unser Wohlergehen und auch unseren materiellen Wohlstand sind, beunruhigt es mich zutiefst, wenn die EU plötzlich in Frage gestellt wird.


Der Ausstieg Großbritanniens ist ein schlimmes Signal. Italien liegt mit der EU über Kreuz, ein paar osteuropäische Mitglieder haben andere Vorstellungen von Demokratie, und in diversen Mitgliedsstaaten hetzen vor allem Rechtspopulisten gegen die Gemeinschaft.

 

Wir alle sind aufgerufen, nächstes Jahr im Mai ein Zeichen für Europa zu setzen: Wir können uns an der Europa-Wahl beteiligen und Kandidatinnen und Kandidaten wählen, die den europäischen Gedanken weitertragen und entwickeln.

Jedes Parlament gewinnt seine Legitimation aus den Stimmen seiner Wählerinnen und Wähler, und deshalb braucht eine starke EU eine hohe Wahlbeteiligung. Ich finde, das ist von allen von uns nicht zu viel verlangt, wenn wir auf das nächste Jahr blicken.

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

als Helmut Schmidt 1982 wegen des Koalitionsbruchs der FDP das Kanzleramt verlassen musste, besuchte ich noch die Grundschule. Die Bedeutung des Doppelkopf-Spielzugs „genschern“ erschloss sich mir erst später, und Helmut Schmidt war eine eher unbekannte Größe für mich. Später, als Juso, lernte ich ihn schätzen, dann auch kennen und, ja, auch bewundern. Der Jahrestag war eine gute Gelegenheit, sich mit ihm auseinanderzusetzen.


Deshalb ist es mir eine besondere Freude, Sie alle noch ins Rathaus einzuladen. In der Diele habe ich heute Vormittag ein Sonderpostamt für die Schmidt-Briefmarke eröffnet, dort gibt es heute noch – und nur heute – den Sonderstempel zum 100. Geburtstag. Sie erhalten außerdem Geburtstagssonderbriefumschläge, Ersttagsblätter, Jubiläumsbriefe und Numisbriefe.

 

Drumherum können Sie sich das Leben und Wirken unseres Ehrenbürgers in großen Bildern ansehen. Darunter sind auch einige, die ihn mit seiner Hannelore, seiner Loki, zeigen, ohne die Helmut Schmidt nie der hätte sein können, der er war.

 

Ich wünsche Ihnen, liebe Gäste, im Namen der Hamburgischen Bürgerschaft einen schönen vierten Advent, besinnliche Feiertage und einen gutes neues Jahr!


Vielen Dank!

 

 

Datum: Sonntag, 23. Dezember 2018, 12 Uhr
Ort: Hauptkirche St. Michaelis