Rede von Götz Aly zum Volkstrauertag in Hamburg am 17. November 2019

Es gilt das gesprochene Wort!


Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir begehen den Volkstrauertag so, wie ihn die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 1953 gesetzlich bestimmt hat: als „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und für die Gefallenen beider Weltkriege“. Wenn auch verdeckt, werden in diesem Gesetz Millionen zwischen 1933 und 1945 ermordeter Zivilisten, die unter Mitwirkung deutscher Polizisten, Juristen, Henker, KZ-Wächter, Nachbarn, Krankenschwestern, Ärzten, Verwaltungsbeamten, Einsatzkommandos und Wehrmachtsoldaten in den Tod geschickt wurden, in einem Atemzug mit jenen Mördern und deren Gehilfen genannt, die später selbst zu Kriegsopfern, zu Opfern ihrer eigenen Aggression wurden – so, wie die Deutschen insgesamt, die all diese Schrecken ermöglicht oder nicht verhindert hatten. Hier in Hamburg erinnern wir heute besonders an die schweren Bombenangriffe zwischen dem 24. Juli und dem 3. August 1943. Sie kosteten 40.000 Männern, Frauen und Kindern das Leben. Aber nicht ohne Grund war dieser im nahen London geplante Angriff unter dem alttestamentarischen Codewort „Gomorrha“ vorbereitet worden.


Im gemeinsamen Gedenken an Schuldige und Unschuldige, an Mitläufer und an Helden des Widerstands liegt etwas tief Beunruhigendes, eine für die Nachfahren der Millionen von Hitlerdeutschland Verfolgten und Ermordeten kaum erträgliche Zumutung. Dennoch sollen und müssen wir auch der deutschen Gefallenen gedenken, der Opfer des Bombenkriegs, der Hunderttausende, die infolge von Flucht und Vertreibung ihr Leben ließen oder in der Kriegsgefangenschaft umkamen. Es bleibt uns keine andere Wahl.


Dieser Einsicht entspricht seit langem die zentrale Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewalt in der von Karl Friedrich Schinkel geschaffene Neue Wache. Zunächst, 1931, wurde sie den Gefallenen des (Ersten) Weltkriegs gewidmet. Im Vergleich zum nächsten Krieg war dieser für die Zivilbevölkerungen noch halbwegs human verlaufen. Nach erheblichen Kriegsschäden wurde die im einstigen Ostberlin gelegene Neue Wache wieder aufgebaut und 1960 als Mahnmal geweiht, und zwar ausschließlich für die „Opfer des Faschismus und Militarismus“. Doch hielt diese Exklusivität nur neun Jahre. 1969 ließ die DDR-Führung dort die sterblichen Überreste des Unbekannten Widerstandskämpfers, des Unbekannten KZ-Opfers und - des Unbekannten Soldaten beisetzen, dazu Erde aus neun Konzentrationslagern und von neun Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs. Jene Umgestaltung des Mahnmals, die Helmut Kohl 1993 veranlasste, änderte an der 1969 geschaffenen, nur schwer auszuhaltenden Grundspannung des verstörenden mehrfachen Gedenkens nichts.


Schon vor der Wiedervereinigung hatte Helmut Kohl dieses Ziel im Auge, als er 1985, anlässlich des 40. Jahrestags der deutschen Kapitulation, zusammen mit US-Präsident Ronald Reagan zwei Gedenkstätten besuchte: Erst den Soldatenfriedhof bei Bitburg in der Eifel, dann das ehemalige KZ Bergen-Belsen. Neben etwa 2000 Soldaten der Wehrmacht liegen auf dem so bezeichneten „Ehrenfriedhof Kolmeshöhe“ bei Bitburg rund 50 Angehörige der Waffen-SS begraben. Deshalb hagelte es damals reflexartig linke und linksliberale Kritik - allen voran geißelte Günter Grass den Bundeskanzler als wüsten, von allen guten Geistern vorbildlicher Vergangenheitspolitik verlassenen „Geschichtsklitterer“.


Grass wusste damals, dass er als noch sehr junger Mann in der 10. SS-Panzer-Division gedient hatte. Aber die Zeit war für ihn noch nicht reif, um diese Last öffentlich einzugestehen. 19 Jahre später hat Günter Grass das noch selbst nachgeholt. Das unterscheidet ihn von den allermeisten - mindestens etwa 500.000 - überlebenden Angehörigen der Waffen-SS.


Ganz anders als Günter Grass erlebte die seinerzeit 32-jährige grüne Bundestagsabgeordnete Christa Nickels den Händedruck von Helmut Kohl und Ronald Reagan in Bitburg. Er öffnete ihr die Augen für das bis dahin Verborgene in der eigenen Familie. Aber es dauerte weitere zwölf Jahre bis Christa Nickels 1997 darüber sprach. Den Anlass bildete der auch im Deutschen Bundestag geführte Streit um die Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Erst diese Debatte gab der Abgeordneten Christa Nickels - als einer von wenigen - die Kraft, die Mauern der Schuldzuweisungen, Rechthaberei und Selbstgerechtigkeit zu durchbrechen. Sie ergriff das Wort und berichtete von ihrem 1908 geborenen, vor nicht langer Zeit verstorbenen Vater.


Der hart arbeitende Bauer hatte in den Fünfzigerjahren „jede Nacht furchtbar von Feuer und Kindern geschrien“, berichtete die Abgeordnete und kam dann dankbar und bebend auf die Versöhnungsgeste zwischen - „unserem Bundeskanzler“! - Helmut Kohl und Ronald Reagan zu sprechen: „Dabei ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass mein Vater auf dem einzigen Foto, das es aus dieser Zeit gibt, eine Uniform trägt, die schwarz ist und auf der Totenköpfe sind. Damals war ich schon für die Grünen im Bundestag und habe es nicht gewagt, meinen Vater zu fragen, denn es fiel mir unendlich schwer. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ich konnte das nicht.“ Am Ende sagte Christa Nickels, sie empfinde ihre Rede „nicht als Nestbeschmutzung“ und begründete das so: „Jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr ich meine Eltern - auch meinen Vater - liebe und geliebt habe.“


Aus diesem Drama, das im Fall des von Anfang an verbrecherisch geführten, von Deutschland gewollten Zweiten Weltkriegs immer auch um die eigenen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern geht, kommen die allermeisten Deutschen nicht heraus – sofern ihre Familien seit vier Generationen hier leben. Es hat keinen Zweck, die individuellen und familiären Lasten zu verschütten und sich einzubilden, wir heutigen seien bessere Menschen. Unsere deutschen Gefallenen kämpften und starben für die Sache des Verbrechens und bleiben doch unsere Lieben, als unmittelbare Vorfahren sind sie Teil unserer Geschichte. Wir gedenken ihrer mit Demut.


Voller Dankbarkeit gedenken wir der gefallenen alliierten Soldaten. Der von ihnen erkämpfte Sieg schuf die Grundlage für unsere heutige Freiheit, für unser Glück. Meine Damen und Herren, stellen Sie sich nur einen Moment lang vor, die Deutschen – „wir“, wenn ich das für die meisten in diesem Raum sagen darf - hätten diesen Krieg gewonnen. Welche Denkmäler wären errichtet, welche Lebenserinnerungen geschrieben worden? In welcher Welt würden wir leben? Wie hießen unsere Straßen? Wie wären wir selbst? Wie würden wir unsere Kinder erziehen? - Ein Albtraum. Deshalb verneigen wir uns heute vor all denen, die Deutschland mit härtester militärischer Gewalt und großen Opfern niederringen mussten und in diesem Kampf gefallen sind. Ehre ihrem Andenken. Das gilt auch für die Bomberbesatzungen, von denen jeder zweite die Einsätze nicht überlebte – zumal dann, wenn Sie an jenen Satz denken, den Adolf Eichmann Ende 1944 in Berlin sprach: „Wegen der anglo-amerikanischen Bomber ist an eine geregelte Behördenarbeit nicht mehr zu denken.“ Eichmann hatte seinen Auftrag damals noch nicht abgeschlossen. Wie Sie wissen, sah das von ihm mitformulierte und inhaltlich vorbereitete Protokoll der Wannseekonferenz den Mord an elf Millionen europäischen Juden vor.


Die Wehrmacht verfügte über insgesamt 19 Millionen deutsche Soldaten – fast alle Männer, die laufen konnten, aus allen deutschen Familien und Bevölkerungsschichten. Sie verwüsteten Europa vom Nordkap bis zum Kaukasus, von Marseille über Warschau bis Leningrad, brachten Zerstörung, Verzweiflung und Tod über viele Zehnmillionen Menschen. Längst nicht alle Wehrmachtsoldaten wurden zu Mördern, aber fast alle begünstigten den Massen- und Völkermord – jedenfalls objektiv, oftmals aus Überzeugung, Verblendung und Dünkel.


Auf dem Marsch Richtung Kiew notierte der Gefreite Werner Viehweg, ein junger Mann, dessen Vater 1933 als Sozialdemokrat aus dem Schuldienst entlassen worden war, im Spätsommer 1941: „In der Nähe hatte vor einigen Stunden ein Überfall versprengter Russen auf einen Trupp Flaksoldaten stattgefunden; sechs Mann waren dabei ermordet worden. Bei der Gegenaktion schnappte man an die 100 Russen, die größtenteils erschossen wurden. Nur einige hatten eine Gnadenfrist erhalten, um verhört zu werden.“


So mörderisch kalt klang es im Kleinen - noch mörderischer und noch kälter im Großen. Ich zitiere aus dem Tagebuch des Ersten Hamburger Bürgermeisters Carl Vincent Krogmann vom 27. November 1941: „Hans Glade vom Hauptverwaltungsamt, der sich auf einer Dienstreise befindet, berichtete über Leningrad und die dortigen Verhältnisse. Er glaubt, dass die Belagerung noch zwei bis drei Monate in Anspruch nehmen wird. Die Lebensmittellage in Petersburg ist außerordentlich schlecht. (…) Man nimmt an, dass der größte Teil der Menschen in Leningrad, zirka 51/2 Millionen, verhungern wird.“ Das war die Absicht. Die Belagerung dauerte 872 Tage, und etwa ein Million Russen, darunter besonders viele Frauen, Kinder und Alte, verhungerten und erfroren.

Aber mein Wunsch, dass unsere Bundeskanzlerin am 8./9. Mai des kommenden Jahres, zum 75. Jahrestag des Kriegsendes, im heutigen St. Petersburg eine historische Versöhnungsrede halten und dem russischen Präsidenten vor den Massengräbern auf dem  Piskarjowskoje-Friedhof in St. Petersburg oder auf dem Schlachtfeld von Stalingrad die Hand geben wird, bleibt nach aller Wahrscheinlichkeit unerfüllt - und damit eine Aufgabe für die Zukunft.


Der Historiker Christopher Browning hat das berühmte Buch „Ganz normale Männer“ über das Reserve-Polizeibataillon 101 geschrieben, das hier in Hamburg zusammengestellt wurde. Der meisten dieser etwa 500 Männer stammte aus der hiesigen Gegend. Sie erschossen etwa 40.000 Menschen, fast ausschließlich Juden, und deportierten 50.000 Juden in den Tod. Das Durchschnittsalter der Massenmörder betrug 40 Jahre, nur 26 Prozent von ihnen waren in der NSDAP, fast keiner in der SS – konnten also unter die heute angeblich allein zuständige Rubrik „Die Nationalsozialisten“ fallen. Sie waren gestandene Familienväter, überwiegend aus einfachen Verhältnissen, vorher nicht kriminell, hinterher nicht kriminell. Das macht uns ratlos.


Browning zog 1992 Parallelen zu den Kriegsverbrechen japanischer und US-amerikanischer Truppen, er sprach von der Schlachtfeldraserei, von der Abstumpfung, der Angst, nackter Wut und Rachegelüsten, die im Krieg zwangsläufig entstehen und immer entstehen werden. Allerdings lassen sich diese Formen der Brutalisierung von Vorgesetzten und obersten Feldherren fördern oder bremsen. Das US-amerikanische Massaker von My Lai war ein schweres Kriegsverbrechen, blieb aber eine Ausnahme. Im Krieg gegen Polen, gegen die Sowjetunion und gegen  Jugoslawien wurde das Morden zu einem von der politischen und militärischen Führung gewollten und geförderten Prinzip.


Das war im Ersten Weltkrieg noch ganz anders gewesen. Ende August 1914 standen sich in der Schlacht bei Tannenberg in Weltpressen insgesamt 350.000 deutsche und russische Soldaten gegenüber. Die kaiserlichen deutschen Truppen errangen den Sieg, und in dieser Stunde forderte der kommandierende General Paul von Hindenburg von seinen erschöpften Soldaten ein zugewandt-menschliches Verhalten, das „in dem gefangenen Gegner den gewesenen Feind vergisst“. In der Tat wandelte sich die Kampfeswut seiner Soldaten „überraschend schnell zu rücksichtsvollem Mitgefühl“ mit den Unterlegenen. Die Gefallenen dieser riesigen Kesselschlacht und der nachfolgenden Wintergefechte und -schlachten in Masuren ließ Hindenburg, gleichgültig ob es sich um deutsche oder russische Krieger handelte, stets gemeinsam und mit einem gemeinsamen Zeremoniell bestatten. Hier und da kann man noch heute die anrührende Inschrift lesen, „Freund und Feind im Tod vereint“. Solche schlichten Gesten, die sich im Zeitalter der Weltanschauungskriege sofort verloren – und bis heute verschwunden sind -, dokumentieren den human-soldatischen Geist eines preußischen Generals. Nur deshalb sind viele der deutsch-russischen Soldatenfriedhöfe in Masuren bis heute erhalten geblieben.


Wir verneigen uns vor den Opfern des Nationalsozialismus, vor den Gefallenen und vor den zivilen Opfern beider Weltkriege.


Datum: Sonntag, 17. November 2019
Ort: Hauptkirche St. Michaelis