Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Vertreter:innen der Amicale International sowie aller anwesenden Verbände ehemaliger Häftlinge und deren Angehörigen,
verehrte Mitglieder des Konsularkorps,
sehr geehrte Staatssekretärin und liebe Kolleg:innen aus dem Deutschen Bundestag,
sehr geehrter Herr Senator Dr. Carsten Brosda,
sehr geehrter Professor von Wrochem,
meine Damen und Herren,
„Wer Zeitzeugen zuhört, wird selbst zu einem.“ So sagte es der Holocaust-Überlebende Elie Wiesel bei seiner Rede in Yad Vashem.
Ich freue mich daher ganz besonders, dass Sie, liebe Dita Kraus, heute bei uns sind und hier gleich sprechen werden.
Meine Damen und Herren,
welches unendliche Leid vor mehr als 79 Jahren von diesem Ort ausging, dem KZ Neuengamme und seinen Außenlagern, ist mit Worten schwer zu beschreiben.
Folgender Satz von Ihnen, liebe Dita Kraus, hat mich tief berührt. Sie sagten: „Es ist, als könnte ich immer nur die Randerscheinungen erzählen, nie die Wunde selbst.“ Womöglich beschreibt genau dies die Unaussprechlichkeit des Grauens.
Die Häftlinge im KZ Neuengamme und seinen Außenlagern wurden zur Sklavenarbeit gezwungen, unter grausamen und menschenunwürdigsten Bedingungen.
Mussten etwa in den ehemaligen Walther-Werken, an denen wir hier heute zusammenkommen, Pistolen zusammenschrauben für ihre Feinde und Peiniger.
Ich muss daran erinnern: Es gab enge Verbindungen zwischen Konzentrationslager und Stadtgesellschaft.
Die Häftlinge schufteten in nahezu allen Bereichen, allen voran in der Rüstungsindustrie.
In der ganzen Stadt mussten sie die „Drecksarbeit“ machen, für die sich die Nationalsozialisten zu schade waren:
Bomben entschärfen, Trümmer beseitigen, Leichen bergen. Harte körperliche Arbeit, ständig unter Lebensgefahr, kaum Nahrung.
Wer nicht parierte, wurde hart bestraft, nicht selten mit dem Tod. Unerträglich für die Seele, für alle, die diese Hölle überlebt haben. Und das vor den Augen der Hamburger:innen, die noch lange am Nachkriegs-Narrativ des „Wir haben ja nichts gewusst“ festhielten.
Heute am 3. Mai jähren sich die Befreiung der Konzentrationslager durch die Briten und das Kriegsende in Hamburg zum 79. Mal.
Wir gedenken aller Opfer der Nationalsozialisten – und nehmen den Tag zum Anlass, auch aller Menschen weltweit zu gedenken, die heute von Krisen, Kriegen oder Terror betroffen sind.
Für die so wichtige Erinnerungsarbeit braucht es Gedenkorte wie diesen.
Es geht darum, am Ort des Grauens von damals eine Verbindung ins Hier und Heute herzustellen:
als Ort des Gedenkens und Erinnerns, als Ort der Begegnung und – für nachfolgende Generationen wichtiger denn je – als Ort des Lernens.
Laut einer aktuellen Studie sympathisiert fast jede:r Vierte zwischen 14 und 29 Jahren in Deutschland mit Rechtspopulisten. Wie konnte es so weit kommen?
Internationale Krisen, steigende Inflation gepaart mit steigenden Kosten für Wohnraum bringen diese jungen Menschen dazu, Migrant:innen abzulehnen – dahinter steht Angst um die eigene Zukunft, sagen die Forschenden.
Aber haben wir Deutschen nicht ähnliche Mechanismen schon einmal erlebt und wissen, wo uns Faschismus hinführt? Haben jahrzehntelange Aufklärung und Demokratieerziehung denn so wenig gefruchtet?
Nein, ganz so ist es nicht. Ich erinnere an die Hunderttausenden, die in den vergangenen Monaten gegen Rechts auf die Straße gegangen sind, darunter auch viele junge Menschen.
Das macht Mut, einerseits.
Auf der anderen Seite endete Faschismus eben nicht mit dem Zweiten Weltkrieg. Antisemitismus, Hass und Hetze haben spürbar zugenommen, übrigens quer durch alle sozialen Schichten.
Und leider auch die Anzahl rechtsmotivierter Gewalttaten bei uns in Hamburg.
Das macht Erinnerungsarbeit und das Engagement von Zeitzeug:innen so wichtig:
Unsere heutige Gesellschaft, nicht nur Jugendliche, sondern Menschen jeden Alters, auch Geflüchtete, müssen die erschütternden, kaum aushaltbaren Einzelheiten über die Gräueltaten der Nazis hören, um verstehen und mitfühlen zu können, was Jüd:innen im Holocaust und allen NS-Opfern angetan wurde.
Sie müssen verstehen, und zwar auch mit dem Herzen, was sich hinter den abstrakten Daten und Fakten aus dem Geschichtsunterricht verbirgt.
Verstehen, wo rechtes Denken anfängt: mit der Überzeugung nämlich, dass Menschen, aufgrund welcher Merkmale auch immer, mehr oder weniger „wert“ ist als andere.
Nur wer die Ursachen und Zusammenhänge begreift, vermag rassistisches Gedankengut als solches zu entlarven und anzuprangern.
Und wer seriöse Quellen von Verschwörungs-Schwurbeleien unterscheiden kann, der läuft nicht unbedingt Gefahr, auf die „moderne Propaganda“ auf TikTok oder anderen Kanälen hereinzufallen.
„Hass ist nichts Natürliches. Hass ist etwas, das man lernt“, sagen Sie, liebe Dita Kraus.
Und weiter: „Man muss erziehen gegen den Hass. Wenn wir damit heute beginnen und die nächste Generation so weitermacht, gibt es Hoffnung.“
Sie selbst waren 13 Jahre alt, als Sie mit Ihrer Mutter von den Nazis inhaftiert wurden, und mussten Ihr Heranwachsen in Lagern überleben.
Ich danke Ihnen, dass Sie heute, im Alter von 94 Jahren gekommen sind, um mit den Jugendlichen zu sprechen.
Dass Sie immer wieder die Kraft aufbringen, uns zu berühren und aufzurütteln – und dabei voller Lebensmut und Hoffnung geblieben sind.
Denn Erinnern, so beschreiben es viele Zeitzeug:innen, bedeutet auch, sich wieder und wieder und wieder dem unerträglichen Schmerz zu stellen und die Wunde offen zu halten.
Zeitzeug:innen der ersten Generation werden immer weniger. Aus der Befreiung vor 79 Jahren folgt auch die Pflicht, ihre Namen und Geschichten zu bewahren, und ihr Erbe lebendig zu halten und es an nachfolgende Generationen weiterzugeben.
Die Hamburgische Bürgerschaft lebt diese Verantwortung. Als Präsidentin liegt mir Jugendarbeit besonders am Herzen. Wir machen Angebote speziell für Schüler:innen wie etwa die Szenischen Lesungen oder bieten Unterrichtsmaterialien an.
Für die Zukunft des Erinnerns müssen neue Orte geschaffen werden, die Verbindungen herstellen, von damals zu heute. Wir müssen uns immer wieder kritisch fragen, was es braucht, damit diese Orte sichtbar werden und bleiben.
Mein Dank gilt allen Mitarbeitenden der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte sowie der Amicale Internationale KZ Neuengamme für Ihr Engagement und die wichtige Gedenkarbeit, die Sie tagtäglich leisten.
Allen Überlebenden und Nachkommen von NS-Opfern danke ich, dass Sie als Hochbetagte die Reise aus aller Welt auf sich genommen haben, um hier mit uns zu gedenken.
Der heutige Tag möge uns allen eine Mahnung sein, auch im Alltag Unrecht zu erkennen und Zivilcourage zu zeigen. Aufzustehen gegen rechts, gegen jegliche Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. An der Supermarktkasse, im Bus oder im Büro.
Wir können uns eben nicht darauf verlassen, dass Demokratie von allein funktioniert.
Wir müssen Demokratie leben und vorleben, um unsere friedliche und freiheitliche Gesellschaft zu beschützen und damit die wichtigste Errungenschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs:
die unantastbare Menschenwürde.
Dafür gibt es als einen der wichtigsten Bausteine freie und gerechte Wahlen.
Am 9. Juni wählen wir in Hamburg die Mitglieder der Bezirksversammlungen und die Abgeordneten für das Europäische Parlament.
Die Bürgerinnen und Bürger entscheiden damit, was vor ihrer Haustür passiert – und, welche Richtung Europa in den kommenden fünf Jahren nimmt.
Gerade mit Blick auf die europäische Geschichte erinnern wir uns daran, wie verhängnisvoll Nationalismus und Rassismus in zwei Weltkriegen endeten.
Die Europäische Union hat zerstrittene Nationen geeint, hat Grenzen beseitigt, hat gemeinsame Werte zum friedlichen Zusammenleben erschaffen.
Das gilt es, gegen aufkommenden Nationalismus, gegen abnehmende Rechtsstaatlichkeit und die Verachtung Anderer zu verteidigen, für ein geeintes, freies Europa, das aus seiner Geschichte gelernt hat.
Darin liegt die eigentliche Bedeutung der Europawahlen am 9. Juni.
In beiden Wahlen kann jede Stimme viel bewirken.
Ich schließe daher mit einem Appell, der mir persönlich sehr am Herzen liegt:
Nutzen Sie bei dieser, wie auch jeder Gelegenheit Ihr Stimmrecht für unsere Freiheit, unseren Frieden und ein gutes Miteinander. Bitte, gehen Sie wählen!
Datum: Freitag, 3. Mai 2024, 16:30 Uhr
Ort: KZ-Gedenkstätte Neuengamme, in den ehemaligen Walther-Werken