Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrter Doyen,
sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrte Abgeordnete, meine Damen und Herren,
I
welche Freiheit hatten wohl die Passagiere des Linienschiffs St. Louis vor Augen, als sie am 13. Mai 1939 aus dem Hamburger Hafen ausfuhren, hinaus ins Offene, ins Ungewisse? Das Schiff fuhr gen Westen, auf den Sonnenuntergang zu. Unzählige Menschen waren schon vor ihnen aus diesem oder einem anderen Hafen ausgefahren in der Hoffnung auf ein besseres, ein freieres Leben, ein Ende von Armut, Verfolgung, ja mitunter auch von Lebensgefahr. Je unfreier das Land, desto begehrter die Passage hinaus. Auf der St. Louis lehnten Reisende an der Reling und blickten zurück auf das, was sie hinter sich ließen. Dort, wo das Land schon seit Stunden hinter dem Horizont verschwunden war, ging die dünne Mondsichel auf.
Die meisten Passagiere der St. Louis waren Juden. Sie hatten mit angesehen, wie ihre Geschäfte beschmiert und die Synagogen in Brand gesteckt wurden, wie ihnen ihre Rechte abgesprochen und sie als „Rassenschande“, als „Gefährdung des deutschen Blutes“ geschmäht worden waren. Die anfängliche Beschwichtigung, mit der sich einige der Passagiere getröstet hatten, es würde schon nicht so schlimm werden unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, hatte sich nicht erfüllt. Im Gegenteil.
Jetzt, an Bord des Schiffes, verfügten sie über gültige Papiere für ihre Einreise in Havana, es war ihre letzte Hoffnung, dem immer gewalttätigeren Antisemitismus in Deutschland zu entgehen. Während sie weiter auf den weiten Horizont zu fuhren, ahnten sie nichts davon, dass die kubanische Regierung entschieden hatte, man wolle nicht mehr so viele Flüchtlinge ins Land lassen. Als die St. Louis endlich an ihrem Ziel angekommen war, wurde nur 29 Passagieren die Einreise erlaubt, die anderen durften nicht von Bord gehen. Die Freiheit war nur einige Armlängen von ihnen entfernt, aber unerreichbar. Sie waren gefangen auf einem Schiff, ausgeliefert durch den Hass der einen und der Gleichgültigkeit der anderen.
II
In der heutigen Nacht, vor achtzig Jahren, unterzeichnete in der französischen Stadt Reims Generaloberst Jodl die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht – Hitler hatte sich bereits durch Suizid jeglicher Verantwortung entzogen, Admiral Dönitz für die letzten Tage die Staatsmacht übernommen.
Vom 8. Mai 1945 reden wir seit vierzig Jahren auch als „Tag der Befreiung“, eine Benennung Richard von Weizsäckers, mit dem er „das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte“ bezeichnete, ein Ende, „das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“.
Mir als Nachgeborene, die ich immer in dieser besseren Zukunft Deutschlands habe leben dürfen, gibt dieses Wort eine Ahnung davon, wie notwendig es 1985 noch war zu sagen, dass die Regierungszeit der Nationalsozialisten, der Hohn gegenüber den politischen Gegnern zu Beginn, dann die zunehmende Verfolgung Andersdenkender, die Willkür, die Entrechtlichung und Entwürdigung bis hin zur offenen Vernichtung, dass dies für keinen Deutschen je Freiheit war, auch nicht für all die Opportunisten, Mitläufer und überzeugten Täter.
1985 war es noch notwendig, dies zu sagen. Heute ist es vielleicht wieder notwendig, denn es scheint bei manchen in Vergessenheit zu geraten.
Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb bleibt in mir beim Reden vom „Tag der Befreiung“ auch ein Unbehagen zurück. Denn die Nationalsozialisten waren ja keine fremde Macht, die im Januar 1933 in Deutschland einfielen und die staatliche Gewalt an sich rissen, sondern sie wurden an die Macht gebracht durch deutsche Bürgerinnen und Bürger, die sie wählten, sie wurden in ihrer Macht bestärkt durch deutsche Mittäter und Zuschauer, die halfen oder zumindest still blieben und die Zerstörer der Freiheit gewähren ließen, ob aus Gleichgültigkeit oder Zustimmung, aus Angst oder für den eigenen Vorteil.
Die Bürger unseres Landes haben es damals nicht geschafft, die Unfreiheit durch ihren eigenen Widerstand, durch ihr eigenes Gewissen zu stürzen, zu wenige waren es, die sich offen gegen die Vernichtungsideologie stellten, zu perfide auch das System der Gewalt und des Terrors, das die Nationalsozialisten in diesem Land aufgebaut hatten. Viele der Deutschen machten mit bis zum letzten Tag oder waren nur innerlich desertiert. Vermutlich kann kaum jemand in diesem Raum sagen, ob er oder sie den Mut und die moralische Stärke gehabt hätte, zu den wenigen zu gehören. Nach fünfeinhalb Jahren Krieg, nach der Ermordung von sechs Millionen Juden in den Konzentrationslagern, dem Mord an Sinti und Roma, Homosexuellen, psychisch oder körperlich Beeinträchtigen, an Kommunisten, Christen und so vielen anderen, die sich nicht in die Ideologie des „arischen Übermenschen“ fügen wollten oder konnten, war die deutsche Wehrmacht besiegt. Es war keine moralische Umkehr; es war eine militärische Niederlage.
Am 8. Mai 1945 war noch in keiner Weise abzusehen, was aus den materiellen und moralischen Trümmern unseres Landes werden würde. Sprechen wir zu unbedarft vom Tag der Befreiung, mogeln wir uns auf die Seite der Opfer, dabei waren zwar nicht wir persönlich die Täter, aber das Land, in dem wir leben, trägt die Verantwortung für die Verbrechen. Das Deutsche Reich besteht schließlich als Völkerrechtssubjekt in der Bundesrepublik fort. Damit erben wir zwar nicht die individuelle Schuld der Täter, aber wir treten in eine besondere Verantwortung.
Wir können sagen: Europa wurde befreit. Verfolgte, Gefangene, Deportierte wurden befreit. Deutschland aber kapitulierte. Und für Millionen von Menschen kam Kapitulation und Befreiung zu spät.
III
Nichts, so hat es Hannah Arendt einmal formuliert, sei „vergänglicher und vergeblicher (…) als eine Befreiung, die unfähig ist, die neu gewonnene Freiheit in angemessene Institutionen und Verfassungen zu verankern.“ Das eigentlich Revolutionäre ist somit nicht der Umsturz, sondern die Ordnung, die darauf folgt, auch wenn sie gar nicht so revolutionär auftritt. Ihr kommt die entscheidende Aufgabe zu, vor Machtmissbrauch zu schützen und bürgerliche Rechte zu garantieren. So begehen wir jetzt den Tag des Kriegsendes in Europa. Der Tag der Freiheit aber ist für unser Land der 23. Mai, jener Tag, an dem 1949 unser Grundgesetz erlassen wurde.
Doch selbst die besten Verfassungen und noch so klug gebauten Institutionen werden brüchig, wenn das, was sie tragen und schützen sollen, nicht mehr geschätzt, als zu selbstverständlich erachtet, als lästig oder anstrengend empfunden wird, vielleicht als den eigenen Vorrechten im Weg stehend. In autokratischen und nationalistischen Regimen, gestern wie heute, wird Freiheit als etwas verstanden, das nur einer bestimmten Gruppe zukommen darf, einer Nationalität, einer Familie, dem engsten Kreis oder ganz allein mir, meine individualistische, zutiefst egoistische Freiheit, die in Wahrheit nur der Triumph ist, mich über die anderen zu erheben, ihnen ihre Rechte abzusprechen. Freiheit, so scheinen diese Gegner des Liberalismus und der Nächstenliebe zu meinen, wird aufgebraucht, wenn wir sie teilen. Freiheit aber braucht Menschen, von denen sie getragen wird. Meine Damen und Herren, die wirkliche Gefahr für die Freiheit ist deshalb nicht, dass sie von zu vielen, sondern dass sie von zu wenigen Menschen geteilt wird. Dadurch verödet sie und wird schließlich zur Unfreiheit.
Ich möchte Ihnen das einmal ganz praktisch zeigen, suchen wir die Freiheit also auf. Wir müssen gar nicht so weit gehen. In Hamburg wissen Sie ja, wo sie liegt, gerade mal zweitausend Meter von hier entfernt. Die Große Freiheit, benachbart von ihrer Schwester, der Kleinen Freiheit, ist Ausgeh- und Amüsiermeile und historisch gesehen die Straße der Gewerbe- und Religionsfreiheit, ein Ort für Menschen, die anders dachten, glaubten und handelten als die Mehrheit.
Für mich als Heranwachsende war sie ein etwas verruchtes Versprechen von Freisein, von Erwachsenwerden, von Leben in vollen Zügen, verkitscht von nostalgischen Erinnerungen, die nicht einmal meine eigenen waren. Dabei sah die Realität in meiner Kindheit schon anders aus. Ich erinnere mich an den Mann, der geduckt und mit hochgeschlagenem Kragen in einem schäbigen Bordelleingang verschwand. Ich erinnere mich an die Drogenabhängige, die gerade nicht so wirkte, als lebten sie ihr Leben in vollen und freien Zügen. Und später, als ich zu einer Rotlicht-Recherche wieder einige Abende in Sankt Pauli verbrachte, konnte ich auch nur die Freiheit für die einen erkennen – für die anderen gab es im wahrsten Sinne sündhaft teure Bordellzimmer zur Miete, vor denen sie auf Barhockern saßen, um sich von oft angetrunkenen Männern begutachten und dann bei geschäftlichem Erfolg für weniger als die tägliche Zimmermiete für Geschlechtsverkehr missbrauchen zu lassen. Die ausliegenden Flyer für Essenslieferservice verrieten, dass die Frauen selten die Bordellflure verließen.
Freiheit – so gern genannt in Reden, Manifesten und Programmen, jeder will sie für sich, einige sogar für andere – endet allzu oft eben da, wo die Freiheit des anderen sich den eigenen Vorteil nimmt.
IV
„Das Freisein von etwas“, so hat es Dietrich Bonhoeffer formuliert, „erfährt seine Erfüllung erst in dem Freisein für etwas.“ Und an anderer Stelle heißt es bei ihm: „Verantwortung und Freiheit sind einander korrespondierende Begriffe. Verantwortung setzt (…) Freiheit voraus, wie Freiheit nur in der Verantwortung bestehen kann.“
Freiheit, so jedenfalls lese ich es, steht nicht für sich allein. Sie ist kein Selbstzweck, sondern immer eine Hinwendung auf etwas oder jemanden zu, und sie kann nicht im Besitz eines Einzelnen liegen, sondern ist ein Beziehungsgefüge. In diesem verdanke ich meine eigene Freiheit nie allein mir selbst, sondern immer auch den anderen, so wie ich durch mein Handeln ihre Freiheit schaffe und bewahre. Verlieren wir das aus den Augen, wird die Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen. Zum Bordellflur. Zur verlorenen Schiffspassage.
Schauen wir noch einmal auf das Deck der St. Louis. Was geschah mit dem Schiff, nachdem die meisten Passagiere in Kuba abgewiesen worden waren? Es irrte an der US-amerikanischen Küste entlang, keiner der Flüchtlinge durfte von Bord gehen, für die USA hatten sie kein gültiges Visum und so musste Kapitän Schröder es nach Europa zurück navigieren. Im Juni 1940 lief es in Antwerpen in den Hafen ein. England, Belgien, Frankreich und die Niederlande verteilten die Flüchtlinge unter sich. Für einige war dies doch noch die Rettung – für andere wurde der Vormarsch der deutschen Wehrmacht zum Verhängnis. 254 Passagiere der St. Louis wurden im Holocaust getötet.
Meine Damen und Herren, der 8. Mai 1945 bedeutete das Kriegsende. Was wir darüber nicht vergessen sollten: Für zigtausende in den Gefängnissen und Konzentrationslagern war das Datum noch nicht zwangsläufig auch das Ende ihrer qualvollen Odyssee. Befreiung war nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Viele von ihnen brauchten Jahre, bis sie eine neue Bleibe, womöglich eine Heimat fanden – denn in Deutschland wollte ein Großteil von ihnen verständlicherweise nicht bleiben. Aber selbst eine neue Heimat entließ sie nicht aus den Erinnerungen an das Erlebte, nicht vom Verlust ihrer Familien, nicht von den nagenden Selbstvorwürfen, weil sie ihre Kinder nicht vor dem Grauen hatten beschützen können, sondern sie allein lassen mussten, als sie ihnen ein SS-Mann an der Rampe wegnahm.
Wer nun zu triumphieren meint, weil er nicht auf dem Schiff steht, sondern vom Hafen aus beobachtet, wie dem Schiff das Anlanden verweigert wird oder noch davor, wie Menschen überhaupt zur Flucht getrieben werden, verhält sich nicht nur zynisch gegenüber den Ausgelieferten. Er versteht auch nicht, dass er damit nicht allein die Freiheit der anderen gefährdet, sondern über kurz oder lang auch seine eigene. Wir begehen einen gewaltigen Fehler, wenn wir meinen, Freiheit würde mehr, wenn wir sie für uns behalten. Das Gegenteil ist der Fall. Freiheit verbraucht sich nicht, wenn wir sie teilen. Sie steht erst dann auf sicheren Füßen, wenn wir alle sie mittragen, für uns ebenso wie für die anderen.
Datum: 7. Mai 2025 ab 12.30 Uhr
Ort: Rathaus, Plenarsaal